Europe Central
vielleicht färbte, sie war schon fünfundvierzig, was er kaum fassen konnte, war im Licht der Sonne jener Tage ein klein wenig heller gewesen; eben hatte sein Ballett »Der Bolzen« seine Uraufführung erlebt, da war sie sechzehn gewesen; ihr Haar hatte einen beinahe rötlichen Ton gehabt, denn es war so dunkel gewesen, dass sich fast alle Farben darin fanden, und auf ihrem ach so hellen Gesicht zeichnete sich jedes einzelne ihrer makellosen Augenbrauenhaare ab; ihre dunklen Augen lächelten einen anderen an, den unbekannten Fotografen; sie wusste nicht mehr, wer es gewesen war, so sagte sie jedenfalls; später sagte sie, es könnte ihre Busenfreundin Wera Iwanowna gewesen sein; ihr Gesicht war seither leicht nachgedunkelt, wie auch ihr Haar.
Als sie älter wurde, machte das Lächeln ihr seltener die Augen schmal; sie ruhten liebevoll auf dem anderen Mann, dann auf dem nächsten; ihre tiefroten Lippen, von denen nur der andere Mann je kosten sollte, lächelten manchmal den anderen Mann halb an, so wie manchmal ihn,
der nun diese Fotografie besaß, eine Reliquie, die ihn für alle Zeiten trösten sollte; und dieses Haar, dieses ach so dunkle Haar, braun oder schwarz, je nach Beleuchtung, bildete ein lebendiges und liebevolles Dunkel, in dem der andere Mann Ruhe finden konnte.
Immer, wenn er sich in dieser Fotografie verlor und einsank, noch unter die Bewegung, mit der ihr Gesicht sich an den Wangenknochen verbreiterte und dann, gleich unter dem Mund, zusammenzog, um sich zu jenem langen Kinn zu formen, dessen seltsame Anmut ihn an die Flötennote einer Haydn-Sonate erinnerte, glaubte er nach einer Weile, er hätte einfach warten und geduldig sein müssen, er wusste nicht, wie viele Jahre lang, dann hätte sie sich vielleicht in der Lage gefühlt, ihm mehr von sich zu geben, ohne sich selbst damit zu schaden. Bevor sie ihm das Foto gegeben hatte, war es schwierig für ihn gewesen, weil er sich nicht sicher sein konnte, dass er überhaupt einen Teil von ihr besaß, von der Geste des Händeschüttelns abgesehen, das kaum jemand je einem anderen verweigern würde; denn sie hatte recht; jenen Sommermorgen in der Nähe von Luga hatte es nie gegeben; Glikmann war es gewesen, der für ihn dort hingereist war und bei seiner Rückkehr gesagt hatte: Mein lieber Dimitri Dimitrijewitsch, es tut mir leid, ich muss Ihnen sagen, dass nur noch eine einzige Wand steht. Ein Volltreffer aus einem Tiger-Panzer …
Eines Nachts in Riga, von wo aus die Verbindung sowieso schlecht gewesen wäre, rief er sie nicht an, weil er, unfähig, sein Sehnen nach ihr weiter zu ertragen, unter der freundlichen Frau eingeschlafen war, die ihn so sehr mochte, dass sie gern bereit war, ihn halb zu erdrosseln, und das Wohlbehagen, das die Hände dieser Frau ihm verschafften, der Balsam ihrer Zuneigung (vielleicht liebte sie ihn sogar schon), das Wissen, dass sie ihn ganz erwürgt hätte, hätte er sie nur ganz lieb darum gebeten – ja, sie hätte ihn getötet, damit er für alle Zeiten sicher in den Händen einer Frau würde schlafen können! –, all das war unglaublich erleichternd und verschärfte doch zugleich seine Einsamkeit, denn er wusste sehr gut, dass diese Frau, die ihn mochte oder liebte, nicht die Frau mit den ach so dunklen Haaren war. Daher konnte er sie an jenem Abend nicht anrufen; das war das erste Mal; und am Morgen gestand sie ihm, erschöpft und mit noch tieferer Stimme als sonst, dass sie geradezu hysterisch geworden war; so sehr, dass der andere Mann es beinahe bemerkt hätte; und kaum hatte sie dies gesagt, wurde ihm klar,
dass sie ihn nun in sich hineingelassen hatte, und noch bevor er wieder auflegen konnte, packte ihn ein selbstsüchtiges Glück, auch wenn dieses Glück darum wusste, dass die Pein, wieder zurück in die Unsicherheit zu sinken, nicht auszuhalten sein würde.
Er wusste, dass er jetzt vorsichtig sein musste, für den Fall, dass sein Glück sie ebenso in Panik versetzte, wie ihre Hysterie ihn glücklich gemacht hatte. Einige Takte später, er war mit Rostropowitsch in dessen Auto unterwegs nach Leningrad, und sie unterhielten sich über die Farbe eines gewissen Geigentremolos in seinem Zyklus jüdischer Lieder, malte er sich aus, wie es wohl wäre, wenn er irgendwie Rostropowitschs Frau Galina, die berühmte Sopranistin, dazu bewegen könnte, sich irgendwo mit ihm zu treffen und auf seiner Kehle zu spielen wie auf einem Xylophon – eine unverzeihliche Fantasie natürlich, die ihm peinlich war und für die
Weitere Kostenlose Bücher