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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Gesicht auf dem Foto kam ihm schöner und entrückter vor denn je, es leuchtete durch den Umschlag, den er zum Zeichen seines Gehorsams und seiner Treue bereits zugeklebt hatte, denn was er enthielt, gehörte ihm nicht mehr. Oh, ihm blieben noch mehrere Tage; sie hätte ihm keine Vorwürfe gemacht oder zumindest nichts gesagt und es vermutlich nie erfahren, hätte er noch ein wenig in der Fotografie gebadet, sie geküsst und mit ihr unter dem Kissen neben sich im leeren Doppelbett geschlafen; aber er würde sie sich nicht mit Gewalt nehmen; er würde ihr nicht nachspionieren; er würde sich dem, worauf er kein Recht hatte, nicht aufzwingen.
    Er schloss die Augen und fand ihr Lächeln nun unverbindlicher als auf der Fotografie. Oh ja, ihre Zähne waren so glasklar wie die Jupitersinfonie! Der Kitzel, auf sie zu warten, Kraft aus der Erinnerung an ihre Stimme zu schöpfen, war kaum auszuhalten. Ihre seltsame Art, unberührbar zu bleiben wie der Himmel, konnte ihm fast als Vorbild dienen. Plato sagt, wenn man zu lieben lernt, kann man das Inbild jedes beliebigen Geliebten hinter sich lassen, um der Erkenntnis des Guten willen. Das mag in seinem Fall nicht zutreffend gewesen sein, da es nichts Besseres oder heißer Geliebtes geben konnte als die dunkelhaarige Frau, aber da alles, was sie war und tat, wie gesagt, gut sein musste, dann musste auch, dass sie die Fotografie wieder einzog, eine gute Tat sein, was bedeutete, dass ihn das, wenn er es begriff und akzeptierte wie jede ihrer anderen Handlungen, in seiner Ergebenheit nur bestärken konnte. Er sagte sich: Was wäre das für eine Liebe, wenn ich neben
ihr ein Bild von ihr bräuchte? – Der reinste Fetischist war er gewesen. Wenn er Aberglauben und Leiblichkeit doch nur überwinden könnte, er würde sie umso aufrichtiger lieben.
    (Auf der Straße sah er einen Mann den Arm um eine Frau legen, und das tat ihm wirklich weh.)
    Er versuchte, sich einzureden, sie wolle ihm eigentlich sagen: Ich will dein Firmament sein; ich werde für alle Zeit auf dich herniederlächeln; aber ab jetzt wirst du dieses Lächeln nicht mehr sehen.
    Und so gab er ihr bei ihrer nächsten Begegnung (sie war von weither angereist, um ihn hier im Kaufhaus Jelissejew zu treffen) den Umschlag und murmelte: Ich habe etwas, das mir nicht gehört. Sie nahm ihn schweigend entgegen. Und danach erwähnten beide den Umschlag nie wieder.

Warum wir über Freya
nicht mehr reden
    Es hat etwas Furchterregendes, so eine Beziehung zu einem Wesen zu unterhalten, das so kaum bekannt ist …
    – Nathaniel Hawthorne (1846)
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    Im dunklen Glanz des Kopfsteinpflasters der Ernst-Thälmann-Straße drängten sich schwarze Massen vor den hell erleuchteten leeren Schaufenstern. Und Lina stand allein dabei und hatte sich verlaufen. Lina war gekommen, um ihrer Schwester Freya zu gedenken, die dem Feuersturm zum Opfer gefallen war. Und Lina verlief sich überall! Es war einmal, da erhoben sich Kuppel, Turm und Dachreiter der Frauenkirche über Dresdens engen, alten Gassen, die nun viel unwirklicher waren als in Hoffmanns Märchen vom »Goldnen Topf«. Wenn man es sich recht überlegt, hätten viele Gebäude aus dem Dresden vor dem Krieg mit ihren seltsam zweidimensionalen Verschnörkelungen Theaterkulissen sein können. Das Stück hieß »Lina und Freya«. Das Dresden der alten Bücher hat es immer nur in Büchern gegeben, eine objektive Wahrheit, aus der wir schließen können, dass es die Ruinen, gezackte Wellen aus Ziegeln und Steinen aus jener Nacht und jenem Morgen, als Dresden aufgebrochen wurde wie ein Granatapfel, dessen Samenkörner man aus ihren Katakomben rupft, nicht wirklich gab . Dresden ist die Schaltstelle Europa, das umfriedete Königreich im Herzen der Vergangenheit! Hier beginnt jeder Tag mit einem Es war einmal. Aber Barbarossa hat sich in seine Höhle im Berg zurückgezogen, um neue entsetzliche Träume zu träumen; er ist uns verloren; es hat ihn nie gegeben. So wie man die bedrückenden Nachrichten aus Stalingrad für russische Propaganda halten musste (eine Mutter kniet vor der Leiche eines Erfrorenen, eine lange, lange Kolonne eingemummter, taumelnder Gestalten verliert sich im Nebel), so war der Feuersturm von Dresden selbst nur ein Alptraum: Erwachet daraus und sehet die blonden Jungen unseres deutschen Vaterlandes in kleinen Uniformen, wie sie
mit handgeschmiedeten Sensen die Ernte einbringen! Diese Logik erlaubt mir auch den Schluss, dass es weder Lina noch Freya je gegeben hat, es sei denn

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