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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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er Bestrafung verdiente; Rostropowitsch war ihm so ergeben wie eine Klette – und dann versuchte Rostropowitsch es mit einer schüchternen Frage zu Prokofjeff bei ihm, die er zu erwägen schien, bis Rostropowitsch den Blick von der verschneiten Straße nahm und sah, dass er sich in Wahrheit in die Welt unter den schwarzen Riegeln und den weißen Schnee der Klaviertasten zurückgezogen hatte. Ihr Foto war der eine Ort geworden, an dem er bei ihr sein konnte, selbst wenn sie nicht bei ihm war. Ihr Gesicht, das seit den Tagen der Aufnahme verschlossener und trauriger geworden war (vielleicht sah es auch nur traurig aus, wenn sie bei ihm war), kannte er inzwischen besser als sein eigenes. Sie hätte die Seine sein müssen.
    An einem Morgen, so weiß wie der Sonnenstrahl auf ihren ach so roten Lippen auf jenem Foto, lag er auf dem Doppelbett in Leningrad und hielt sich den Hörer ans Ohr. Er hörte ihr übliches Schweigen, und dann sagte sie ganz leise: Weißt du, ich werde es von dir zurückverlangen müssen. Ich habe einen Fehler gemacht, das hat ihm wehgetan und mir und dir. Es tut mir leid.
    Nun, das ist natürlich ganz richtig so. Ich bin … Vielleicht überlegst du es dir noch einmal, Elena; das ist meine Hoffnung.
    Nein. Ich werde es mir nicht noch einmal überlegen.
    Also gut.
    Es herrschte Stille, und dann sagte sie: Wir wollen nicht mehr davon sprechen. Ich werde nichts mehr dazu sagen. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, kannst du es mir geben, ohne ein Wort.
    Aber wenn du nichts sagst, dann, siehst du, dann werde ich denken, du hast es dir anders überlegt.
    Nein. Das werde ich nicht tun. Gib es mir einfach zurück und sag kein Wort. Es ist meine Schuld. Es tut mir leid.
    Er beschloss, sie nie nach dem Grund zu fragen, und das gelang ihm, obwohl die ungeheure Anstrengung ihn weit mehr ermüdete als die Arbeit an einer Sinfonie, deren Kern einfach Kommunikation ist und nicht jenes größere Lied namens Schweigen; Grund des Gelingens war etwas, das er, und warum auch nicht, Liebe nannte, vielen Dank. Wir treffen uns im Sommergarten. Oh, achte gar nicht darauf, Elena, achte gar nicht darauf. Ich weiß sehr wohl, ich hätte vor vielen Jahren, du weißt schon. Bald begleitete er das Orchester zu Aufführungen der 7. und 8. Sinfonie nach England und Frankreich. Mindestens fünf Proben, dann die Generalprobe, er würde kaum … Er sollte sich also gegen die Einsamkeit munitionieren; höchste Zeit, das üppige, mollige Mädchen mit der Paddelzunge anzurufen. Und Wodka! Bestimmt würde T. Nikolajewa vorbeischauen, für ein Duett – braves Mädchen! Ob er sich von Margarita scheiden lassen sollte? Er musste Glikmann sehen, der ein so guter Zuhörer war, und dann … Nun, warum musste sie auch ihr Foto zurückverlangen, wo es ihr doch so wenig bedeutete, während es ihm so viel bedeutete, weshalb sie es ihm überhaupt erst gegeben hatte? Dann begriff er: Gerade deshalb musste sie es tun.
    Am Morgen darauf hatten seine Qualen beim Aufwachen nachgelassen, weil er sich eingeredet hatte, sie könnte es sich eines Tages wieder anders überlegen, da sie es sich ja schon einmal anders überlegt hatte, und selbst wenn sie es nicht tat, nun, einmal hatte er bei sich gedacht, dass er, ganz offen gesagt, nicht so, wissen Sie, nicht so weitermachen könne, aber jetzt wusste er, dass er es konnte; er konnte ewig so weitermachen; immer und immer weiter.
    4
    Er wusste, dass er aus der Fotografie alles herausholen musste, was er konnte, weil er sie nie wiedersehen würde (egal, sagte er sich; ein kleiner Tod mehr, das ist alles), also prägte er sich erneut das zarte weibliche Gesicht ein, mit seinem jugendlichen Lächeln, das nun einem
brütenden Blick Platz gemacht hatte, der viel ausgehalten hatte und fast alles aushalten konnte.
    Verzweifelt kleidete er seine Verzweiflung (oder versuchte es, sollte ich sagen) in das Gewand eines Scherzes, wieder hatte er die Bemerkung fallenlassen, er könne ihrer nächsten Begegnung, wenn er ihr, wie abgemacht, die Fotografie zurückgeben sollte, gelassen entgegensehen, weil seine Hoffnung wuchs, worauf sie mit ihrer tiefen und makellosen Stimme erwidert hatte: Nein, ich werde meine Meinung nicht wieder ändern. Kein Wort mehr darüber. Ich möchte, dass du mir das Foto ohne weitere Worte zurückgibst, und dann werden wir nie wieder darüber reden.
    Da war also nun diese Fotografie, die er bald ehrenhaft würde aufgeben müssen, entweder für immer oder bis sie, Sie wissen schon; das

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