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damals Mut. Der Hauptmann hat ihm gesagt, er solle verschwinden, sonst werde man ihn wegen Verleumdung der Roten Armee verhaften.
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Danach, sagte Vala, lief er nur noch herum und flüsterte: Der Iwan geht nie wieder weg.
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Aber das ist alles nie geschehen. Es hat nie eine Freya gegeben. Im Jahr 1958 war ich im Albertinum auf einer Ausstellung proletarischer Malerei und Skulptur, und so lange ich auch hinsah, ich konnte nichts Unfrohes entdecken!
Wollen Sie wissen, was Glück ist? Glück ist die Abwesenheit unangenehmen Wissens. Ich versuche immer, mich an diese Definition zu halten, wenn ich meine Berichte schreibe. Die Menschen wollen hören, dass alles in bester Ordnung ist, glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.
Gerne staune ich in dem sauberen Geschäft am Postplatz die Brotlaibe an, immer vier übereinander, den Knust nach vorn, und die Würste, die nebeneinander an ihren Haken hängen. Das ist für mich Vollkommenheit. Herr Meyer findet das auch; er ist stolz auf seinen Laden. Wenn ich wollte, könnte ich an den November 1945 zurückdenken, als auf dem Postplatz wieder die ersten Lichter angingen und rauchig in den Ruinen leuchteten; das war damals ein Triumph, aber im Vergleich zu heute, 1960, ist es traurig. Unwillkürlich erinnere ich mich manchmal an ein zerschmettertes, verbranntes, mit Staub überzuckertes Skelett mit einer angesengten Nazi-Armbinde, das auf dem Postplatz lag, mit offen stehendem zertrümmertem Mund, dem die schwarzen Zähne fehlten wie der Lukaskirche die Ziegel; auch das war ein Triumph für unsere siegreichen Feinde.
Es macht mir Freude, Freyas Leben und Tod zu verleugnen und mir damit so ein gewisses Wissen zu ersparen. Und es macht mir Freude, die Dresdner Schulmädchen zu betrachten, in ihren karierten knielangen Röckchen, die Blusen züchtig bis obenhin zugeknöpft. Ist das nicht das Glück?
Ich sage: Warum sollen wir uns selber leidtun? Sparen wir uns unser Mitleid für die nordkoreanischen Waisenkinder im Maxim-Gorki-Heim auf. Unsere ostdeutschen Bräute halten Blumensträußchen in den Händen; wir stehen an den Fenstern unserer Mietskasernen und wünschen ihnen alles Gute.
Unsere Trümmerfrauen in ihren langen Röcken, die zwanzig Jahre lang Loren voller kaputter Ziegel über die Schienen gezogen haben, während sich am anderen Ufer der Elbe die Gerippe der Dresdner Kirchen und Türme selbst betrauerten, sie haben uns geholfen, dorthin zu kommen, wo wir heute sind, und da wir nun hier sind, wollen wir von den Trümmerfrauen nichts mehr wissen.
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Ihr Bruder Hans war nun ein großer blasser und finsterer alter Mann mit eingesunkenen Augen. Er hielt die Hände in den Taschen seiner Vorkriegsweste vergraben. Das dunkle Stahlskelett, das wir eben über die Elbe gelegt hatten, das »Blaue Wunder« – Hans war eingezogen worden, Träger für den Bau zu schleppen, und sein schlimmes Knie hatte ihn nicht davor bewahrt; weil es eine Kriegsverletzung war, von der Ostfront, hatte er sich mit deren Erwähnung einen Schlag aufs Ohr eingehandelt; er hatte Glück, dass es dabei blieb. Und nun mussten seine Kinder in der Schule Russisch lernen, sagte er; bald würden wir keine Deutschen mehr sein. Und im Winter war es jetzt kalt, wirklich kalt, sagte er; die Russen hatten ihm den Ofen weggenommen.
Hans' Frau Gertrud war bei der ersten Angriffswelle umgekommen. Er hatte sie mit eigenen Händen ausgegraben; er hatte sie auf seinen Armen zum Altmarkt getragen. Er stand dabei, als der Pferdekarren sie zur Verbrennung abtransportierte, aber man hatte ihm verboten, näher zu kommen, aus Furcht vor Epidemien.
Er wohnte mit seinen Kindern im Haus von Gertruds Eltern, die noch lebten. Als Lina zu Besuch kam, saßen sie bei zugezogenen Vorhängen um den Tisch, die Älteren lächelten vorsichtig, als könnte jeden Augenblick wieder etwas Schlimmes passieren, die Jungen grinsten in Vorfreude auf den Kuchen. An der Wand hing ein Stalinbild, mit einem Blumenkranz um den Hals, weil er schon gestorben und zum Gott geworden war. Sie wirkten erleichtert, als sie sich verabschiedete.
Ich bringe dich nach Hause, sagte Hans.
Auf der anderen Straßenseite hockten ein Dutzend Bauarbeiter auf einem Gerüst, das aussah wie die Geistersprossen, die in Schostakowitschs Quartett Nr. 8 an allen Noten hängen, die sich über die Notenlinien erheben, und ließen eine Flasche Schnaps herumgehen. Einer von ihnen rief Lina etwas Unanständiges hinterher.
Sag nichts, riet Hans ihr.
Wann hätte
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