Europe Central
werden sollten, und so erwachte die Rakete zum Leben. Sie war schon vorher eine ausgezeichnete Rakete gewesen, mit einer Hülle aus Magnalium.
Ich spitzte Natalkas schöne weiße Zähne an, die sich bei der Fertigung von Knutschflecken so gut bewährt hatten, und stopfte sie in Granaten, die ich meiner Rakete unter die Tragflächen schraubte. (Ihre Eckzähne hob ich mir für eine Mine auf, die ich mit der Tür verkabelte.) Ich räumte ihren Schädel leer und packte ihn mit Kabeln und Schaltern voll, damit die Rakete ein Lenksystem hatte. Ich füllte die Treibstofftanks mit ihrem heißen Russenblut! Was von ihr übrig war, ach, ihre Haut war so weich wie die eines Ami-Lasters; ihr Fleisch hatte Kurven wie die Brustpanzerung eines T-34, an der unsere Geschosse abgeperlt waren wie Regen an einer Entenbrust. Was von ihr übrig war, schnitt ich mir in Würfel und doste es ein, als Reiseproviant. Dann war ich bereit, bis in den Himmel hoch zu fliegen.
Unter anderen Umständen hätte ich dieser Frau Schmuck gefertigt. Arme Natalka! Aber ich war ein Gefangener und platzte vor Zorn, weil ich wusste, dass uns in Berlin am Bahnhof nie wieder Kinder zum Abschied zuwinken würden.
Da kamen sie und feuerten durch die Tür. Ich saß schon in der Führerkanzel meiner Rakete. Als sie hereinstürmten, detonierte meine Mine und Natalkas Zähne mähten ein halbes Dutzend von ihnen nieder. Lachend legte ich den Hebel um und donnerte mitten durch die Decke.
Soll ich Ihnen erzählen, wie und warum ich obsiegt hatte? Unter meiner Zunge (der einzige Ort, an dem sie nicht suchten) hielt ich einen Splitter der alten Reichskrone versteckt, mit anderen Worten: ein Stück vom Wahren Kreuz.
Opus 110
Das Problem des »Schwarzbrotes« der Kultur ist vollständig gelöst, und nun ist es Zeit, die Gesellschaft mit den »süßen Plätzchen« der Kultur zu versorgen.
– The Soviet Way of Life (1974)
1
1
Man hört es am besten in einem fensterlosen Raum, am allerbesten in einem luftleeren – genauer gesagt: einem für alle Zeiten verplombten, von Baumwurzeln umschlossenen Bunker. Das 8. Streichquartett von Schostakowitsch (op. 110) ist die lebende Leiche der Musik, perfekt in seinen ganzen Schrecken. Hier wird die Melodik erwürgt, während man sie gleichzeitig ausbluten lässt. In einem staubigen Zimmer streift die Seele alles Leben ab. Als der Krieg vorüber ist, als Stalin tot ist und Europa sich zum Schmuck die verwaisten Schlote des von Brandbomben entstellten Murmansk und die Ruinen der Kirchen Dresdens als Friedhofsobelisken aufstellt, lässt die Politik uns einen oder zwei Augenblicke lang in Frieden und kaut sich nervös die Klauen ab. Der Soldat kehrt heim, zieht die mit Blut und Schlamm verkrustete Uniform aus und wird wieder Bürger. So auch Schostakowitsch. Seine Besucher rühmen seinen Erfolg: Auf den Tisch kommen weißes und schwarzes Brot, Wurst, Käse und Butter!
2 Nylonstrümpfe für Ninuscha! Seine Kinder lieben ihn, Lebedinski respektiert ihn, Glikmann vergöttert ihn; Ninuscha (für euch Nina Wassiljewna!) wimmelt unerwünschte Besucher ab; die Partei umwirbt ihn; Galina Ustwolskaja küsst ihn. Oh ja, er ist sehr, wie soll ich sagen? Ach, könnte ich doch nur … Nicht ans Telefon gehen! Es ist nämlich Zeit, um, nun, Sie wissen schon. Aber was ist das für ein Laut? Im Opus 40 kommt er gewiss nicht vor. Welche Tonart drückt Verlust am wirkungsvollsten aus? Im Dunkel sägt ein Cello einen Ton hervor, so trocken wie das Summen von Wespen in einem Schädel. Er schlägt sich die Hände auf die Ohren, aber wozu soll das gut sein? Der Laut kommt von innen! Was ist das für ein Laut? Bisher hatten er und wir nichts anderes hören können als das vaterländische Rasseln der Panzer unter den Torbögen
Leningrads, wie ich es in meiner 7. Sinfonie umgesetzt hatte. Und selbst ich war gläubig gewesen! Ich sage ja nicht, dass die anderen keine Idealisten waren, selbst Chrennikow mit seinem dicken Kinn, dessen Verdienst darin bestanden hatte, dass er … nicht dass ich hier schlecht über einen Kollegen reden will, oh, nein, liebe Freunde! Wusstet ihr, dass der Genosse Stalin Chrennikow lobt und preist? Aber hallo! Die beiden sind aus einem Holz. Nein, nicht ich sollte als Mann der Epoche gelten. Ich werde sauer, wenn sie jemandem die Fresse einschlagen und dann von mir die Vertonung erwarten. Wie seltsam, dass Roman Lasarewitsch von mir die Musik zu seinen sogenannten »Meisterwerken« möchte, wo Chrennikow doch viel, Sie wissen
Weitere Kostenlose Bücher