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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Zuflucht unter den Klaviertasten sah er ihnen zu. Selbst mit den Trägern himbeerfarbener Stiefel tauschte er Höflichkeiten aus, wenn er nach oben und draußen lugte, allzeit bereit, sich wieder hinter seine Brillengläser zu ducken – der gute Schostakowitsch! Er war so gemäßigt wie der Genosse Stalin. Diese bitteren, grässlichen Dinge, die sich wehklagend seinem zuckenden Grinsen entrangen, so unvermittelt wie das Kreischen der Geigen (unsere Aufgabe ist es, zu frohlocken)  – nun, nun …
    Schon im Jahr 1944 hatte der Cellist W. Berlinski sich, als er Schostakowitschs erstaunliches musikalisches Gedächtnis lobte, genötigt gesehen, ihn als ein Nervenbündel zu beschreiben.
5 Und nun, da die Deutschen unter ihren eigenen Trümmern begraben worden waren, lauschte Schostakowitsch mit halb weichem Gesicht, weichen Händen und ganz und gar bleich, die Handgelenke leichenblass nebeneinander, in seinem Schädelbunker am Flügel wieder und wieder der 8. Sinfonie (die bald als abstoßend, ultra-individualistisch abgelehnt werden sollte);
6 als er bei jenem entschlossenen Ruf zu den Waffen im vierten Satz angelangt war, jenem angespannten, süßlichen Klimpern tiefehrlicher, totaler Opferbereitschaft, biss er sich vor Selbstekel auf die Lippen; wie hatte er nur jemals an etwas glauben können? Er war aufgestanden, weil er dazugehören wollte. Er hatte sogar Hoffnungen gehegt. Jetzt komponierte er Fugen (und hier dürfen wir vielleicht anmerken, dass das lateinische Wort fuga ganz einfach Flucht bedeutet).
    Wir wissen, dass Hitler tatsächlich erwogen hat, Leningrad mit einem Elektrozaun abzuriegeln. Nun war das ganze Land abgeriegelt, und das gründlicher als je zuvor. In immer engeren Kreisen wirbelten Schemen durch den Sommergarten, aber es war nicht Sommer. Und Schostakowitsch, der die erste Friedensluft schnupperte, fand sich in der Lage des zerlumpten Bauern in seiner verbotenen Oper »Lady Macbeth« wieder, der in den Keller einbricht, weil er Wein stehlen will, und benommen vom Leichengestank eines Ermordeten wieder daraus hervortaumelt.
    1945 sehen wir ihn für das Gesangs- und Tanzensemble des NKWD das Volkslied »Das Laternchen« schreiben. Selbst da hielt er in seiner Aktenmappe noch immer einen Satz frische Unterwäsche und eine Zahnbürste bereit, für den Fall, dass er verhaftet würde. Nur zum, nun ja, Spaß malte er sich gerne aus, wie sie im Fünfvierteltakt an die Tür klopften, das wäre wirklich sehr … Nina war genauso vorbereitet. Wenn die Kinder schliefen, kam er manchmal zu ihr ins Bett, drückte ihr die Lippen ans Ohr und begann flüsternd den Genossen Stalin zu verfluchen. Sie schlug die Augen auf. Leise flehte sie ihn an: Mein Gott, was sagst du da? Denk nur, was mit uns geschehen könnte!
    War es vielleicht schon immer so gewesen? Ein französischer Reisender des neunzehnten Jahrhunderts, dessen Prosa so purpurn war wie die Ausweiskarte eines NKWD -Agenten, hatte einmal erklärt: Die Russen sind mehr als Gespenster, sie sind Schatten. Sie schreiten gravitätisch neben- oder hintereinander, weder traurig noch froh, ohne Worte und Gebärden.
7 Dies sind Worte aus einer Zeit, als in St. Petersburg noch alle sechshundertsechsundzwanzig Kirchenglocken läuteten. Ob man sie neu stimmen könnte? Er wünschte, er hätte es tun können, wissen Sie. Aber nun, da Petersburg Leningrad hieß und die blaublütigen Mädchen aus dem Smolnykonvent nicht mehr lebten, war selbst Schweigen gefährlich. Jeder musste sein Hosianna singen. Des-C-Des, das war sein ach so garstiges Lied im Allegretto der 8. Sinfonie. Bei der Uraufführung hatten sie nervös gewirkt. In die Luft sprengen wollte er sie alle. Er war ein gesetzestreuer Bürger unseres Großen Sowjetlandes; er summte mit. Dann ging er ins Nebenzimmer, schlafen.
    3
    Im Jahr 1946 erklärte Stalins eifrig skrupelloser Schatten, der Genosse Schdanow (der bald unter merkwürdigen Umständen zu Tode kommen sollte) vor der Abteilung Leningrad des Sowjetischen Autorenverbandes: Der Leninismus geht von der Tatsache aus, dass unsere Literatur nicht unpolitisch sein kann, kein l'art pour l'art.
8 Da wurden sie mucksmäuschenstill; sie wussten, was nun kommen würde. Verblüffend war im Grunde nur, dass es nicht früher gekommen war. Wenn das Leitmotiv einmal erklungen ist, wie kann das Opus dann fortschreiten, ohne dass es sich wiederholt? Der Genosse Schdanow verschränkte die
Arme vor der gewaltigen Brust, so dass er an einen unserer KW -Panzer erinnerte,

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