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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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schon. Natürlich hat sie nie mit Chrennikow geschlafen, jedenfalls nicht dass ich … Gott sei Dank ist das alles vorbei. Isaak Dawidowitsch sagt, sie habe sich von ihm scheiden lassen, da muss er sehr … Das geht mich natürlich nichts an. Sie findet bestimmt wieder einen älteren Mann. Und ja, der Krieg ist aus, das auch; wenn Maxim doch nur keine Alpträume von Auschwitz mehr hätte! Ich finde, in dieser Welt müssen wir … Und Galischa erzählt mir, der Junge wolle nicht einmal … Nicht dass sie es selbst so gut getroffen hätte, mit mir als Vater. Oje! Jetzt schweigt Europa stille – aber was ist das für ein Laut?
    Er selbst ist es, der da in der luftleeren Kammer hungert, würgt und weint. Dem klugen Urteil der Sowjetskaja Musika zufolge: Unübersehbar hat Schostakowitschs Werk eine gewisse Neigung, sich selbst zu genügen; die volkstümlichen Wurzeln seiner Musik reichen nicht tief genug.
3 Sein bleiches und glänzendes Gesicht senkt sich dem Notenpapier entgegen, das von den Anzugärmeln, Ellenbogen nach außen, auf dem Schreibtisch gehalten wird; er erinnert uns nicht länger an einen Jungen; die Stirn ist höher geworden; er braucht wieder eine Zigarette. Er spürt nicht mehr, was ihm Schmerz bereiten sollte. Er ist nur noch Katalysator einer biochemischen Reaktion, die Schmerz in Musik umwandelt. – Was ist das für ein Laut? Vermutlich ein D. – Von rechts grinsen ihn aus den langen schwarzen Kieferknochen seines besten Flügels Musikzähne an; wenn die Zeit gekommen ist, wenn Opus 110 zum Vollzug bereit ist, werden sie wissen, was getan werden muss! Struppige, faserige Baumwurzeln werden sein Fleisch verschlingen. Im Augenblick sind sie noch nicht volkstümlich, noch nicht tief genug. Keine Angst; sie werden sich tiefer graben. Was ist das für ein Laut? Die traurigen, geheim
nisvollen Seufzer der Streicher ziehen sich zu einem Largo des Erstickens zusammen. Nicht so schaurig wie das Allegretto der Gerippe, wenn der Tod die Seele jagt und zur Strecke bringt; das ist ein traurigerer Laut: Wenn der Tod seine Arbeit vollbracht hat, müssen wir fortan durch die Sterbenden leiden. Daher Opus 110.
    Vielleicht sollten wir anmerken, dass dieses Quartett mit der unverkennbaren Notenabfolge D, Es, C, H beginnt, also: DSCH , was daher auch bedeutet: Dimitri Schostakowitsch. Ein Auftrumpfen, typisch für selbsternannte Sowjetkünstler, die verfolgt wurden, weil sie ihrer eigenen Muse folgten. Im Falle der Achmatowa, die viele Jahre lang nicht veröffentlichen durfte und Sohn wie Geliebten im Gulag verlor, ganz zu schweigen von ihrem Ex-Mann, den wir vor langer Zeit erschossen hatten, klingt fast schon Größenwahn aus diesem schrillen Ich bin . Bei einer Engländerin wäre diese Egozentrik vielleicht unerträglich gewesen. Sie schmiedet Verse über die Strophen, Straßen und Denkmäler, der die Nachwelt einst ihren Namen geben werde. Aber sie war Russin. Sie war nicht frei. Was konnte sie behaupten außer sich selbst? In einer Welt des Wir wiederholte das Ich mit versagender Stimme immerzu trotzig seinen Namen. Sie wurde zur Heldin; in Gefangenenlastern und den Lagern des hohen Nordens lernte man heimlich ihre Gedichte auswendig. Sie schrieb ich , und Schostakowitsch schrieb DSCH .
    Nicht lange vor dem Opus 110 widmete sie ihm ein Gedicht. Sie schrieb, seine Musik leiste ihr im Grab Gesellschaft, zu sprechen haben Blumen da begonnen.
4 Dann wurde sie langsam hinfällig, saß jahrelang in einer stickigen Kammer, trank ihren Tee und weinte.
    2
    Als sie die entsetzliche Nachricht hörten, die Amerikaner hätten über Japan zwei »Atombomben« zur Explosion gebracht und Tausende oder Hunderttausende getötet (wie immer variierte die Zahl der Opfer je nach Erzähler), sagte Schostakowitsch mit schaurig finsterem Lächeln: Unsere Aufgabe ist es zu frohlocken.
    Jüngere Musiker hatten begonnen, sich von ihm abzuwenden, seines diabolischen Zynismus wegen, der fast den Stalins nachzuäffen und sich aufzublähen schien, bis er Moskaus neue Heldenkolonnen überschattete; während seine Generation, die ihn besser verstand, sich ein
fach nur um seinen Überlebenswillen sorgte. Ganz grundlos: Er hatte bereits überlebt. Für ihn waren sie alle blaue morgendliche Schatten auf frisch gefallenem Schnee, Silhouetten, die vorsichtig über die vereisten Gehsteige rutschten, gelegentlich wie eine Überraschung: ein kamelbrauner oder blondpelziger Mantel, eine barhäuptige Frau, die ihren Atemdampf ausstieß; aus seiner

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