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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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beleidigt hat. Er hat gesagt, ich solle, ich solle, ach, ich habe vergessen, was er gesagt hat. Soll ich ihn anrufen? Aber er ist ein braver Junge. Jetzt, da ich wieder ein Aussätziger bin, wird er auf Abstand gehen. Genau wie beim letzten Mal. Aber beim letzten Mal war da eine Frau, die, sozusagen, zwischen
uns stand, und daher … Aber sie steht ja noch immer zwischen uns. Ihre Stimme klingt immer so traurig! Wenn ich doch nur den Hörer abnehmen könnte und, und, wissen Sie, sie wäre wirklich sehr …
    Er war, ich schwöre es, fast bereit, sich von Nina scheiden zu lassen, und zwar nicht erst im nächsten Jahr, sondern noch in diesem, und Elena Konstantinowskaja die Ehe anzutragen; aber er hatte einen Alptraum, in dem Maxim verzweifelt versuchte, zu ihm zu laufen, und Nina das Kind nicht loslassen wollte; plötzlich verwandelte sie sich in ein Krokodil, das Maxim den Arm abbiss, und Maxim schrie! Wer sonst schrie so? Mein Gott, es war nur ein Traum! Wenigstens war es nicht der Traum mit dem roten Punkt. Manchmal muss man einfach …
    Ohne jede Vorwarnung klang sein Kopf von einem Akkord wieder, so wunderschön wie der rote Strom, der sich aus einem Flammenwerfer in einen feindlichen Bunker ergießt! Vierzehn Jahre später kreischte dieser Laut, der für alle anderen Ohren schreckenerregend und grässlich klingen würde, aus Opus 110 hervor. Nun, aber was ist schon das Opus 110? Es ist nicht der, der sogenannte Höhepunkt meines Lebens, denn das wäre doch sehr …
    Nina hatte ihn gedrängt, sich nicht auf weitere Freundschaften einzulassen, vor allem nicht mit Funktionären, aber das wusste er schon. Mit ihrem kurzen Rock und dem flotten Hut hatte sie in Prag an seiner Seite sehr schick ausgesehen. (Die Einschätzung des Genossen Alexandrow: eine junge, hübsche, blonde Frau mit sanften braunen Augen und einer guten Figur. )
10 Wenn er an Nina dachte, erlebte er seine Schuldgefühle und sein Mitleid aus der Distanz, und warum auch nicht, denn sonst konnten sie unmöglich, Sie wissen schon. Wenn er krank oder traurig war oder, oder, dann war er sich sicher, dass Elena die Richtige gewesen wäre. Elena, was für ein Glück für dich, dass du mich nicht geheiratet hast. Nina knallte ihm wieder eine Schüssel ihrer ausgezeichneten Pilzsuppe hin; er hätte zu gern gewusst, wo sie die … Maxim stritt sich mit Galischa, die sagte … Er fragte sich, ob sie je wieder gemeinsam in Urlaub fahren würden. Man konnte unmöglich voraussagen, wer als Nächster zum Kriminellen erklärt werden würde. Das Klopfen im Fünfvierteltakt hatte damals anno 36 kommen sollen, und noch immer lag seine Unterwäsche gepackt bereit! Deshalb konnte er nicht mit dem Trinken aufhören. Das war alles Teil des, des, Sie wissen schon. Egal, es musste sein, sonst wären seine Kollegen, warum es ausspre
chen? Apparatschiks, Propagandisten, Chauvinisten, Funktionäre und Schmarotzer stießen mit ihm an; und zwei Schläger von der Geheimpolizei öffneten lässig die Reißverschlüsse ihrer Lammfelljacken, schlenderten zu dem angststarren Komponisten hin und küssten ihn auf beide Wangen. Der Größere der beiden rief: Sie sind so russisch wie Rotgold, Dimitri Dimitrijewitsch! – Das sollte ihm vielleicht eine Warnung sein, sich nicht weiter in das verbotene Dunkel seines neuen Projekts zu verlieren, des Zyklus mit dem Titel: Aus der jüdischen Volkspoesie.
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    Was zog Schostakowitsch zu jüdischen Harmonien hin? Die einfachste Antwort, und die wahrste, lautet vielleicht: ihre Traurigkeit . Sehen wir einen Augenblick lang davon ab. Obwohl ich nicht umhinkann, in der Notenschrift insektenartige Figuren zu entdecken, hausen in einer Partitur doch auch viele menschliche Gestalten. Ein Violinschlüssel zum Beispiel erinnert an einen Moskowiten oder Leningrader in einem unförmigen Mantel mit Kapuze. Ein Bassschlüssel beugt sich so einfach und schmerzensreich wie der Schattenriss einer Witwe in Leningrad, die Wasser aus dem Weiß eines zugefrorenen Kanals schöpft. Ich kann selbst nicht sagen, warum das so ist, es wäre denn, diese Gestalten stünden irgendwie für tiefere Inhalte, den Urgrund aller Dinge vielleicht. Warum nicht? Schließlich halten die Kabbalisten die Lettern des Alphabets für göttliche Erscheinungen; und in unserer Sowjetunion gilt die marxistische Vorstellung, die Kunst, und mit ihr alle Kultur, bilde nur einen Überbau, der auf ökonomische Verhältnisse gegründet sei. Was war der Inhalt des D. D. Schostakowitsch? Worin

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