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lag seine Bedeutung? Anfallsweise kämpfte er immer wieder um seine Freiheit, aber was würde er tun, wenn er sie je erlangte? Oder war, wie es die neue existentialistische Bewegung unterstellte, die Freiheit nichts als der Kampf darum?
Eines Nachts, nicht lange nachdem die herrschenden Kreise der reaktionären Mächte einen eigenständigen »westdeutschen« Staat gegründet hatten, träumte er einen sehr seltsamen Traum, voll böser Vorahnungen und Verheißung zugleich. Er träumte, er wäre wieder ein blasser, junger Student, der in den Fluren des Leningrader Konservatoriums herumspukte wie sein eigenes verzücktes Nachtgespenst. Dieses Reich
war nun die legendenumwobene Welt unter den schwarzen Klaviertasten geworden, das klangerfüllte Refugium, in das seine Seele sich von Kindertagen an immer hatte zurückziehen können. Draußen beugten dunkle Jungengestalten mit Wollmützen ihre Gesichter dem blendenden Schnee entgegen, auf dem sie standen; der Träumer begriff, dass dessen Weiß die angebliche Welt darstellte, in der sein Körper, seine Ehrungen und seine Feinde Wohnung hatten. Drinnen war er in Sicherheit. Die pikanten Schwingungen der Chromatik, die diese Korridore erfüllten, nährten ihn, als wäre er noch ein Baby und lauschte dem Herzschlag der Mutter, den Kopf an ihrer Brust. Oder denken Sie sich, wenn Sie wollen, diese durch die Lüfte schwebenden Akkorde als Staubflusen, von der göttlichen Leuchtspurmunition eines Sonnenstrahls vergoldet, überirdisch und in alle Ewigkeit unberührbar. Aber plötzlich war es, als würde der Staub bedrohlich herumwirbeln; die Harmonien erlitten Unterbrechungen und Verzerrungen, als hätte jemand um eines Intervalles willen seine Hand auf einen heulenden Mund geschlagen und den aufgestauten Laut dann eine Weile anschwellen lassen, dann wieder unterbrochen, dann wieder befreit, wobei das Abdämpfen des Klanges immer länger währte, bis die gleiche würgende Stille, die in jeder einzelnen Note des Opus 110 wohnte, auf ewig vom Dunkel Besitz ergriffen hatte. Und in dem Tunnel, der sich nun vor ihm auftat, mit einer irgendwie schleppenden Kadenz, die für die verminderten Intervalle seines Lebens symptomatisch war, erspähte er ein verwandtes Gespenst, eine große, bärige Erscheinung mit dem Bart und den Schläfenlöckchen eines Chassid. Irgendwie wusste er, dass der Name dieses Menschen Genosse Luria lautete und dass dieser Genosse Luria ihm böse war.
Weil du uns alle mit deiner platten 7. Sinfonie verraten hast, die ihre eigene Aussage auf der Brust trägt wie einen scheiß Orden …
Nun, nun, nun, da werde ich dich um Vergebung bitten müssen, erwiderte Schostakowitsch, fast erstickt vom Grauen des Traumes. Siehst du, ich wollte den Menschen Mut machen und – na ja, ich wollte sagen, ich dachte, ich könnte mich nützlich machen …
Nützlich?, wütete der Genosse Luria. Du weißt ganz genau, dass der Nutzwert nichts ist als ein Zuhälter, der die wahre Kunst auf den Strich schickt! Außerdem …
Er trat einen Schritt näher. Schostakowitsch erbebte.
Außerdem, Dimitri Dimitrijewitsch, ist es höchste Zeit, dass wir über Form reden.
Noch ein Schritt. Jetzt umwaberte Schostakowitsch der Geruch verbrannter Haare.
Dir wird nicht entgangen sein, fuhr der Genosse Luria fort, wie die Ästheten davon schwafeln, dass Form ohne Inhalt nichts wert sei und Inhalt nichts ohne Form. Aber in der Musik kann die vollendete Einheit von Form und Inhalt so tot sein wie ein Gesetz, dem der Segen des Himmels fehlt. Es muss Gefühl geben …
11
Entschuldigung, Entschuldigung; aber ist Gefühl in diesem Fall nicht das Gleiche wie, äh, Inhalt? Ich verstehe natürlich, dass er der Form nicht gleichberechtigt ist, egal, was unsere sozialistischen Realisten predigen. Ein Könner kann mit einem Allegro in Dur zum Beispiel alles vermitteln, nicht nur Glückseligkeit …
Genau, sagte der Genosse Luria und machte einen weiteren Schritt. Das hast du in der »Lady Macbeth« selbst bewiesen.
Oh, ach, dafür Dank, ja, danke. Aber was, wenn ich fragen darf, ist denn musikalischer Inhalt, wenn nicht das Gefühl der Musik?
Der Genosse Luria lächelte, tat drei weitere schnelle Schritte, streckte einen Arm aus wie zur Segnung und berührte ihn.
Diese Berührung! Als käme man in ein abgedunkeltes Zimmer und würde plötzlich von weichen, lautlosen, ekelhaften Nachtfaltern angefallen, deren Schuppen dutzendweise abblättern, während sie einen an Nase, Stirn, Wange und Augen
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