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streifen, trocken flatternd und sterbend, sich unbedacht auflösend, während sie ihn besudelten, angriffen und erstickten. Er wankte. Der Staub, vom Rauch der Millionen und Abermillionen verbrannten Juden vielleicht, ließ ihn würgen.
Der Genosse Luria war ein verkohltes Gerippe. Der Genosse Luria sagte ganz klar und deutlich: Wenn jemand eingeäschert wurde (egal ob tot oder lebendig), ist seine Form das Bild von ihm, das du in deiner Erinnerung trägst. Sein Gefühl, sein Gefühlswert, könnte man sagen, ist nicht mehr und nicht weniger als das Gefühl, das du hast, wenn du dich an ihn erinnerst. Was also ist sein Inhalt?
Ich weiß es nicht.
Eine Handvoll Asche?, wollte der Genosse Luria wissen und blies Schostakowitsch einen Brodem ins Gesicht, der schaurig nach geröstetem Fleisch stank.
Nein, nein …
Was ist dein Inhalt?
Ich … ich habe keinen Inhalt. Ich bin leer.
Dann bringe das in deiner Musik zum Ausdruck.
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Später, bei seiner Recherche zum Thema Judentum, erfuhr er, das Isaak Luria ein bedeutender Kabbalist gewesen war.
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Ich bin leer !, krähte er Glikmann und Lebedinski zu. Ich habe keinen, wie soll ich sagen, keinen Inhalt. Wenn ich ein paar Takte aus »Suliko« summen würde, wäre ich am Ziel meiner Träume, weil …
Bitte, Dimitri Dimitrijewitsch!
Keine kommunitaristischen Mahnreden mehr!
Wir flehen Sie an, schweigen Sie! Wer weiß, wer uns …
Die Furcht, er könne vor ihnen etwas Verbotenes sagen und dabei belauscht werden, stand ihnen schaurig klar in die Gesichter geschrieben. Er vertiefte sich in diesen Anblick und verwandelte ihn gekonnt in einen einzigen Akkord, den er zu gegebener Zeit aus dem Lagerhaus seines Schädels hervorholen und in das Fahrgestell des Opus 110 einschweißen würde.
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Die Familie Schostakowitsch war inzwischen nach Moskau umgezogen. Zu viele ihrer Freunde waren in Leningrad umgekommen; eine Rückkehr hätten sie nicht ertragen. (Hierzu merkt der Genosse Alexandrow an: Schostakowitsch übertreibt. In Leningrad waren nur acht Prozent der Wohnungen zerstört. )
12 Die hellbraunen und erdfarbenen Häuser dort blieben ohne Fensterscheiben, das vielfache rechteckige Dunkel ließ sie so seltsam unmenschlich wirken wie altrömische Gemäuer; alles Leben darin war schon lange fort und von Jungen und Mädchen des Komsomol beim Frühjahrsputz auf den Friedhof gekarrt worden. Moskau war im Vergleich dazu unberührt. Die Kinder, nun ja, wurden nicht so leicht daran erinnert. Außerdem flüsterten Glikmann, Lebe
dinski und seine anderen Freunde, die Partei habe ihre Angriffe auf die Leningrader Intellektuellen wieder aufgenommen; nicht dass Nina, die mit jedem Geburtstag ängstlicher zu werden schien, Moskau für sicherer hielt, aber es war angenehmer zu glauben, es gäbe überhaupt einen Ort, wo man in Sicherheit leben könnte. Dann hatte der Genosse Schdanow diese Rede über seine – ha ha! – Suchscheinwerfer gehalten! Außerdem lehrte E. E. Konstantinowskaja in Leningrad am Konservatorium, und er wollte nicht zufällig, Sie wissen schon. (Weiß wie Baumwolle wäre ihr Gesicht geworden, wie ein Rauchwölkchen aus einer Flakkanone.) Seine Schwester Maria sagte, Elena habe einen Professor Vigodski geheiratet. Da hielt man besser Distanz! Und schließlich, ich wollte sagen: vor allem war das Dynamo-Stadion hier in Moskau, und Fussball begeisterte ihn wie eh und je.
Der Komponist hatte zwei Flügel in seiner Doppelwohnung. Wenn er sie nicht benutzte, deckte er sie mit dicken schwarzen Tüchern zu. Die Wohnung, die Flügel, die Datscha und alles andere waren ein Geschenk des Genossen Stalin. (Behalten Sie die Tunte im Auge, wies Stalin Beria an. Irgendwann macht er was falsch. Dann ziehen Sie ihm eine über, aber feste.)
Schostakowitsch alterte rasch. Ach, ach, wie krank er sich fühlte! Er konnte die Bedeutung des Ganzen nicht mehr fassen. Seine beste Schülerin in dieser Periode, eine abweisende Schönheit namens G. I. Ustwolskaja, saß in einem ungeheizten Zimmer und bearbeitete das Klavier buchstäblich mit den Fäusten, in einem wütenden Versuch, ihre Sonate Nr. 1 zur Welt zu bringen, in der, wie sie (zu seinem Entsetzen) steif und fest behauptete, sein Einfluss sichtbar werde; nun, ich, genauer gesagt, vielleicht in der Pikkoloflöte, ein ganz klein wenig jedenfalls, aber der Zorn dieser jungen Frau war nicht gezügelt, so wie der seine es allzeit gewesen war; das war ihm unbehaglich; warum warf sie nur immer so den Kopf zurück, warum starrte
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