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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sie die Wand an und knirschte mit den Zähnen? Sie sagte, die Zeiten seien danach, was er, nun ja, eine Närrin konnte er sie kaum schimpfen, gesund war sie auch wieder nicht; aber obwohl sie so sichtlich lebensuntüchtig war, gab es etwas an ihr, das ihn an Nina erinnerte; sein lieber Freund Sollertinski, der vor nun schon so vielen Jahren dahingegangen war, hatte einmal die Ansicht vertreten, er fühle sich von starken Frauen angezogen.
    Die muffigen, düsteren Akkorde, die sie dem Flügel abrang, seien,
wie sie fand, am besten für die Kirche geeignet. Wie Elena Konstantinowskaja immer zu sagen pflegte, o ja, einst hatten sie sogar gemeinsam Englisch gelernt: It gives me the creeps . Da wird mir ganz gruselig. Er hatte schon jahrelang nicht mehr daran gedacht. Ganz gruselig wurde ihm bei der Sonate der Ustwolskaja. So wie bei seinen Alpträumen vom Genossen Luria, ganz abgesehen von, äh, na ja, den Augenblicken, wenn er, das soll heißen, Sie wissen schon, dieses Schwein . Was Schostakowitsch selbst anging: In seinem Kampf, die Schönheit auf seine eigene Weise zu finden und den Melodien treu zu bleiben, die er im Kopf hatte (der einzige Treueschwur, den er nicht brechen konnte), stürzte er wie eine rotierende Bombe auf die Gruft seines Opus 110 herab. Dort konnte er in die Luft jagen, was immer er wollte. Schaden würde es keinen anrichten, weil für Verbrennungsprozesse der Sauerstoff fehlte … Immer schneller, immer tiefer! Inzwischen war er grauer geworden als die Wände des Leningrader Konservatoriums. Die schneidende trockene Kälte des russischen Winters (die die Meteorologen den Hochdruckgebieten über Asien zuschreiben) quälte ihn jetzt mehr denn je. Wodka war das Einzige, was ihn noch wärmte. Aber Nina meinte …
    Er ließ seine Schüler ihre Partituren jetzt ausnahmslos mit Tinte schreiben, seiner Augen wegen.
    8
    I. Schwartz, der schon eine gewisse lyrische Begabung gezeigt hatte, konnte sich nicht länger leisten, seine Studien fortzusetzen. Schostakowitsch sagte ihm: Was ich gehört habe, ist besser als alles von Schostakowitsch!
13 (Anderen Studenten sagte er das Gleiche.) Er zahlte Schwartz' gesamte Studiengebühren für die nächsten zwei Jahre, heimlich, damit der junge Mann sich ihm nicht verpflichtet fühlte. Aber der Genosse Stalin wusste vermutlich Bescheid. Vermutlich lächelte der Genosse Stalin triumphierend, als er sah, dass Schostakowitsch Gestalten mit deutschen Namen finanzierte…
    Die Menschen bekamen es langsam satt, Chrennikows »Lied der Artilleristen« zu pfeifen. Schostakowitschs altes »Lied vom Gegenplan« erlebte ein Comeback. Nina erzählte ihm, erst in der vergangenen Woche habe sie es in der Nähe des Bahnhofs von einem beinamputierten Veteranen gehört.
    Er wurde streng mit Nina, und sie zog die Vorhänge zu. In Petersburg, in dem Raum, wo Paul im Jahr 1801 von einer Clique Militärs ermordet wurde, hatte man die Vorhänge per Edikt über ein halbes Jahrhundert lang geschlossen gehalten. Die Gebete hielten sich ähnlich versteckt, unter den sternenbesetzten Kuppeln der Ismailowski-Kathedrale, und hinter den hohen Mauern des Smolnykonvents lernten hübsche junge Edelfrauen, wie man eine Dame wurde. Ach je, das war doch damals in den ersten Takten der Ouvertüre! Und Nina ging fort; so wie sie die Tür hinter sich zuschlug, wusste er, dass sie spät nach Hause kommen würde.
    Tags darauf schauten zwei Männer in glänzenden Schaftstiefeln herein, um ihm gute Ratschläge zu geben: Sie weisen dem Glück die Tür, Dimitri Dimitrijewitsch. Was könnte einen echten Kommunisten glücklicher machen, als sich zum Thema Lenin zu äußern? 
    Oder, da wir gerade dabei sind, zum Thema Stalin!, warf der Kleinere der beiden ein.
    Ja ja, Sie haben ganz recht, wie konnte ich das vergessen …
    Der Strom dieser Gestalten versiegte nie und ihre Art zu reden blieb immer gleich. Er kannte sie so gut, dass er hätte lachen mögen! Wenn er noch zwanzig gewesen wäre, hätte er die Musik zu einem Ballett über sie schreiben können; die Tänzer wären Pappkäfer gewesen. Denn das war alles so … Und doch, so seltsam das sein mochte oder auch nicht, jede neue Attacke nagte an seinen Abwehrkräften. Nina hätte sein Realismus gefallen; andererseits, wenn Galina Ustwolskaja gesehen hätte, wie schleimig er sie anlächelte, sie hätte ihre Faust durch den Flügel geschlagen.
    Sie haben uns Lenin in Ihrer 6. Sinfonie versprochen. Dann in der 7. Sinfonie. Nicht, dass wir etwas gegen die

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