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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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an seine Pflicht den Massen gegenüber. Vergangenheit waren die Tage, als Schostakowitsch allein in einem Gestrüpp dunkler Stühle saß, den Mund an die Hand gepresst, und einer Probe seiner Siebenten lauschte! Damals hatte er geglaubt, Musik könne gut sein. Jetzt … Sollte er sich also gar nichts mehr anhören? – Deinetwegen kommen wir wieder zu spät, knurrte Margarita ihn durch ihre kleinen weißen Zähne an. – Sie ließen sich bald scheiden, und er verkroch sich bei Lebedinski und wartete, bis sie endgültig verschwunden war. Da lag eine Filmzeitschrift; er blätterte sie immer wieder durch. Auf einer Fotografie hielt der alte Roman Karmen seine Kamera so lässig und geübt wie ein Soldat seine Waffe und lächelte kokett zu einem Vietkong-Mädchen mit einer Maschinenpistole herab. Sie stand in einer Reihe von Kämpfern; immer standen sie in einer Reihe; und Schostakowitsch wartete und wartete auf das Läuten des Telefons; Maxim hatte es vollbracht; Margarita war fort; sie hatte sich für alle Zeit in die Spiegelungen der Autoscheinwerfer und Leuchtreklamen auf dem kalten Nass der Moskauer Straßen aufgelöst. Ich höre, sie habe sich an einen besseren Mann gebunden. Warum sagen wir nicht, dieser, Sie wissen schon, dieser Vigodski habe jetzt zwei Frauen? Er nimmt meine Abgelegten auf. Oh, was für ein Schwein ich bin, was für ein … Nichts als Ärger hat man im Leben. Ob Elena wohl noch die safrangelbe Handtasche hat, die ich ihr in der Türkei gekauft habe? Das war sehr gute Qualität. Hoffentlich hat Nina nie davon erfahren, weil … Inzwischen erklärten die Apparatschiks ihn zum Volkskünstler der UdSSR ; Schweden ernannte ihn zum Ehrenmitglied der Königlichen Musikakademie. Alle ermutigten ihn, diese Oper aus der Schublade zu holen, diese »Lady Macbeth« oder wie sie hieß, und sie aufzupolieren, sie zeitgemäß zu machen. Wie würde sie zum Beispiel, wenn die Frage erlaubt war, in einer Dur-Tonart klingen? Dann war da die Sache mit den Melodien, die er sich von dem Reaktionär Mussorgski geborgt hatte. Diesen Anschuldigungen begegnete er mit dem Geständnis: All die musikalischen
Zitate, nun, das ist für mich nur eine Möglichkeit, nicht ich selbst zu sein. – Oh, diese Schweine! Wenn sie doch nur … – Andererseits sagten sie, man betrachte sein Interesse an der Lage der Frauen wirklich mit Wohlwollen. Mit der »Lady Macbeth« könne man durchaus zeigen, wie sehr sich das Leben unserer weiblichen Mitbürger und Genossen durch die Revolution verbessert habe. Wenn er die Heldin vielleicht mehr zum Opfer machen würde, damit man sie nicht fälschlich … »Interesse«, ach je! Er konnte die Frauen so sanft dazu bringen, sich auszuziehen, wie er M. Mejerowitsch dazu verführt hatte, seine Zigeunerrhapsodie umzuschreiben – auch wenn das schon zehn Jahre her war. Gut, das war vorbei. Die Zeit, wie soll ich sagen, sie vergeht.
    Schneefall machte die weißen Straßen trübe, der Schnee verwandelte die Bäume in angedickte Negative ihrer selbst, weicher hellbrauner Matsch, weißer Schnee, der auf in Pelz gehüllte Frauenschultern fiel, weiße Konturen einst schwarzer Geländer, Russenmützen und kasachische Pelzmützen, so ausladend wie Baumkronen, alles war so Alles-oder-nichts wie die Noten, die er auf seine Blätter schrieb; und als er furchtsam zwischen den Vorhängen seiner Wohnung hindurchlugte, erspähte er vor den schmutzigen, fleckigen Hausfassaden eine lebendige Note; sie trug eine weiße Pelzjacke, und ihr langes Haar quoll schwarz unter ihrer Mütze hervor wie ein Ais mit dem Hals nach unten – es war nur ein Traum, aber, o mein Gott, das lange dunkle Haar! Sie wagte offenbar nicht, näher zu kommen. Nun, kein Wunder; zwanzig Schritte weiter stand ein Mann mit Schnee auf dem dunklen Schnurrbart, Schnee auf der dunklen Pelzmütze und dem dunklen Mantel; er trug hohe, glänzende Stiefel und starrte unverwandt zu Schostakowitschs Fenster hinauf. Ist das nicht der, der immer die Achmatowa beschattet? Also, ich bin froh, dass es nur ein Traum ist, denn … Wenigstens blieb alles weiß und schwarz; fast genau wie in seinem wahren Zuhause unter den Klaviertasten. Wann wird dieser Traum enden? Ich möchte jetzt aufwachen. Da ist etwas daran, das ich nicht mag, und ich weiß nicht warum. Zwei langhaarige Mädchen unter einem roten Regenschirm kamen näher. Das Rot unterbrach ihn und sprang ihn an. Jetzt war es überall – Trupps kleiner Mädchen mit roten Ballons, Trupps von

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