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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Pionieren mit roten Fahnen. Aber ich bin kein Antikommunist. Nur dieser rote Fleck, den … was war das für ein Laut? Und wie kann ich ihn in Musik aufheben? Da gibt es ein hohes His darin, das mir
Schauer über den Rücken jagt, aber trockene Bassklänge gibt es auch. Die Achmatowa hat ein gutes Ohr. Wie es ihr wohl geht? … Das Donnern der Kanonen hat sie in ihrem Gedicht »Das erste Ferngeschoss auf Leningrad« als eine Art »fernes Gewittergrollen« beschrieben. Aber das trifft es nicht genau. Ich werde jetzt aufwachen, und dann … Da ist er wieder. Was ist das für ein Laut? Ach, wie ich diesen Laut hasse. Und er kommt näher; sie müssen sich eingeschossen haben. Ich glaube, der Laut wohnt in dem roten Fleck. Weißt du, ich glaube, ich muss etwas gesehen haben, als ich klein war, das … Vielleicht einen Blutstropfen auf den Lippen meines Vaters, als er, nein. Oder etwas, das, was ist das für ein Laut? Bestimmt kein fernes Gewittergrollen, denn dieses His …
    Der arme Glikmann, der es immer gut meinte, lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen Film über die Arbeiterinnen, die Stalingrad wieder aufgebaut und in dieser Zeit in deutschen Flugzeugwracks geschlafen hatten, weil es keine andere Unterkunft gab; er fand, ihr Heldenmut könnte ein schönes Sujet für Schostakowitschs nächste Sinfonie abgeben. – Bestimmt, Isaak Dawidowitsch; ich werde mir dieses Sujet genau ansehen müssen; ich werde dieses Sujet ganz besonders, wie soll ich sagen, sorgfältig erwägen müssen. Alles Weibliche hat, natürlich, seine sogenannten »Vorzüge«. Die Fabrikarbeiterin zum Beispiel, die mit dir flirtet, Vera Iwanowna, weißt du, ich habe gesehen, wie sie erst ihren dunkelroten Lippenstift aufträgt und dann ihren Schutzhelm aufsetzt, wenn ich dich abends zur Straßenbahnhaltestelle bringe. Nun, das ist wirklich sehr … – Und er wandte sich mit einem Ruck ab, damit Glikmann sein zorniges Lächeln nicht sah.
    Aber warum sollte er so, so, Sie wissen schon? Einmal hatte Glikmann ihn mit in den Kinopalast genommen, das musste zirka anno 32 gewesen sein, noch bevor er Elena zum ersten Mal geküsst hatte; er hatte eben mit der Arbeit an »Lady Macbeth« begonnen und die Frauenfrage war ihm wichtig, das glaubte er jedenfalls; Nina beklagte sich schon, dass sie ihm nie wichtig war, aber das war, wie soll ich sagen; jedenfalls wurde im Kinopalast Roman Karmens Dokumentarfilm über die Kolchos-Stoßarbeiterin Jewdokija Jermoschkina gezeigt; als sie anfing, Analphabetinnen zu unterrichten, auf die Tafel zu deuten und sie alle im Chor die Lektion nachsprechen zu lassen: Wir sind keine Sklaven, Sklaven sind wir nicht, war Schostakowitsch erschauert. Er war,
äh, jung gewesen , verstehen Sie? Ach, genau wie Karmen! War unser lieber Roman Lasarewitsch noch immer ein wahrer Gläubiger? Achtzehn Jahre Parteimitglied; achtzehn Jahre Arschkriecherei; kein Wunder, dass Elena ihn nicht mehr ertragen konnte; ich höre, sie sei sehr, sehr … – Er wird seinen Stolz haben. Wird er zu Jewdokija Jermoschkina eine Fortsetzung drehen? Wahrscheinlich hat sie sich besoffen und ihren Traktor zu Schrott gefahren, so ist das nämlich, wenn wir …
    Oh, Schostakowitsch lächelte! Er schlabberte Gift auf. Alles Weibliche natürlich – in meiner allernächsten Sinfonie! Selbst die strengen alten Drachen, die in unseren Sowjethotels alles in Ordnung halten, selbst sie umwarb er. (Wenn er in jenen »Weißen Nächten« spät aus dem Fenster blickte, sah er manchmal Gefangenenlaster, die wie gewöhnlich Volksfeinde davonkarrten, aber inzwischen waren sie als Brotlaster getarnt. Er würde sich das Quietschen ihrer Reifen für das Opus 110 mopsen.) Seine Musik war eine weite Umlaufbahn rund um den Planeten der Zwölftonmusik geworden, und diese Umlaufbahn wurde langsam mürbe.
    27
    Im Jahr 1955, als die US -amerikanische Regierung eben begonnen hatten, die nationale vietnamesische Befreiungsbewegung zu unterdrücken, wurde sein Liederzyklus Aus der jüdischen Volkspoesie schließlich doch noch uraufgeführt (im kosmopolitischen Leningrad natürlich). Wir vergaben ihm diese zionistische Provokation, obwohl er sich noch immer nicht entschließen konnte, in die Partei einzutreten. Wir übten sogar noch Nachsicht, als er sein wachsendes Prestige für die posthume Rehabilitierung von W. Meyerhold einsetzte. Ach, er war wahrlich ein Internationalist, ein neutrales Element! Leider brauchte unsere Sowjetunion solche Leute noch. Also setzten wir uns in die

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