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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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gemischter Kadenz – nein, mit trügerischer Kadenz …
    Ganz recht, Genossen!, rief ein Apparatschik. Nikita Sergejewitsch hat den Nagel auf den Kopf getroffen! Unser Dimitri Dimitrijewitsch hat sich vielleicht ein wenig in die Nesseln gesetzt, aber er weiß Bescheid!
    Chruschtschow baute sich vor ihm auf und streckte ihm die Hand entgegen. Gequält erlaubte Schostakowitsch ihm, die seine zu schütteln. (Sein Arm machte ihm heute besonders viel Kummer. Ab 1964 würde er auf öffentliche Auftritte verzichten müssen.) – Na, Dimitri Dimitrijewitsch, man hat mir erzählt, Sie seien dürr wie eine Bohnen
stange, und jetzt sehe ich, Sie sind ein echter Sperrballon! Sie müssen Ihren Teil gutes russisches Brot abbekommen haben, und mehr!
    Es tut mir leid, verehrter Nikita Sergejewitsch, bitte vergeben Sie mir …
    Nur ein Scherz! Kommen wir zur Sache. Wann werden Sie endlich in die Partei eintreten?
    Chruschtschow stank nach Schweiß. Sein Wanst war so dick wie die Rotunde des Kirow-Theaters.
    Oje, ach ja, seufzte Schostakowitsch. Das Problem ist, also, um es ohne Umschweife zu sagen, Nikita Sergejewitsch, ich habe das nie verstanden, mit dem, dem, wissen Sie, wenn sie von Mehrwert reden …
    Überlassen Sie den Quatsch doch den Intellektuellen!, rief Chruschtschow. Sagen Sie mir einfach, dass Sie ein Mann der Partei sind. Sind Sie ein Mann der Partei?
    Ich, ich unterstütze die Partei von ganzem …
    Nun klatschten all die Epigonen, und die Volkskomponistin L. Ljadowa, eine Frau, die nicht gerade sein Typ war, lief herbei und küsste ihn …
47
    Die Ljadowa wollte ihm einen Rat unter Genossen geben, um ihm zu helfen, korrektere Musik zu schreiben. Sie fand, seine Musik sollte klarer sein. In einer ihrer letzten Auseinandersetzungen hatte Galina Ustwolskaja ihm gesagt, er habe seine Musik verraten, weil er bereit sei, vor diesen Mördern so zu tun , als bedeute sie, was immer sie wollten. Und dann hatte sie, ich, ich wollte sagen, danach hatte sie … Die Ljadowa dagegen war so eifrig wie ein Strom von Achtelnoten! Vielleicht hatte sie etwas Fröhliches an sich. Könnte Sie tatsächlich, Sie wissen schon? Nun, war er etwa dazu verdammt, seine letzten Jahre, sozusagen, auf einem Friedhof zu verbringen? Er wusste nicht zu sagen, ob ihre Dummheit einen Schutz bedeuten oder schlicht unerträglich sein würde. Sie hatte sich die Lippen leuchtraketenrot angemalt. Er fragte sich, wie es wohl wäre, sie zu, zu, ach, vergessen Sie das. Sie strich ihm über das graue fettige Haar, stülpte ihm den überwältigend roten Mund entgegen und flüsterte: Wollen Sie die Pläne der Imperialisten nicht durchkreuzen, Dimitri Dimitrijewitsch? Wann treten Sie in die Partei ein? Als Signal wäre das wirklich …
    Im Grunde wollte er sich betrinken. Er wollte das Bewusstsein verlieren. Er träumte, dass ihm ein Gerippe lockend winkte.
Wie lange kann ein Mensch sich abquälen?
    Er saß mit seinem ausdruckslosen Blick da, der zum Glück oft für verstört gehalten wurde, und verschränkte die Arme so fest er konnte, saß bewegungslos auf dem Podium, während die Musiker sein »Lied von den Wäldern« spielten.
    31
    Bleich und aufgedunsen, in einem schweren dunklen Anzug, lächelte er beim Wein den anderen grinsenden Funktionären zu. Bald würde er mit einer leisesten Andeutung von Sarkasmus all seinen Freunden Glückwunschpostkarten zum Jahrestag der glorreichen Oktoberrevolution schicken. Glikmann schrieb er: Und im Übrigen verläuft mein Leben sehr schwer. Ich würde gern, ja sehr gern jene Alte zur Hilfe rufen, die ein Dichter in dem Poem (wie Glikmann lachen würde! Wie Nina geschnaubt hätte! Er musste selber lachen und schluchzen, als er den Witz vertiefte; er lauschte sich selbst und hörte ein dreitöniges Wehklagen wie von einer Luftschutzsirene) »In weiter Ferne« so inspirierend beschrieben hat, das im (Glikmann würde sich totlachen über diesen Schwulst) Zentralorgan Prawda vom 29. IV . 1960 veröffentlicht wurde.
48 Einundvierzig Jahre später, als Glikmann seinen Briefwechsel mit Schostakowitsch schließlich veröffentlichte, fügte er zur Erklärung für jene unter uns, die keine »Enigma«-Entschlüsselungsmaschine besitzen, extra in einer Fußnote hinzu, dass die Alte für den Tod stehe. Ich küsse dich herzlich, fuhr Schostakowitsch in seinem Brief fort. Bleib gesund und munter.
    Als er diesen Gruß erhalten hatte und ihn ein seltsames Gefühl beschlich, bemühte Glikmann sich tatsächlich, wie ich höre, Elena

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