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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Konstantinowskaja zu besuchen, die inzwischen Dekanin des Fachbereichs Fremdsprachen am Leningrader Konservatorium war, aber sie wies seine Annäherungsversuche zurück und sagte: Sehen Sie, ich bin sechsundvierzig Jahre alt, und Mitja? Vierundfünfzig? Für uns beide ist es zu spät. Und ich bin verheiratet. Und meine Tochter würde das nie verstehen; sie hasst Mitja! Wichtiger noch, da Sie hinter Mitjas Rücken zu mir gekommen sind, hat er offensichtlich kein Interesse. Sie glauben vielleicht, dass er mich braucht, aber wer bin ich denn?, und rätselhaf
terweise verlosch ihre Zigarette. Sie warf sie auf den Boden, zündete sich eine neue an und fuhr fort: Ich bin nicht einfach jemand, der gebraucht wird; ich, ich – jetzt rede ich schon wie er, das ist Ihre Schuld! Also mit meinen besten Empfehlungen, Isaak Dawidowitsch, ich habe Mitja nichts zu sagen, da er mir nichts zu sagen hatte, und wenn Sie jetzt bitte, bitte gehen würden!
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    Genusssüchtig klammerte Mitja sich an die Zigarette. Auch wenn sein Streichquartett Nr. 7 die gleiche nervöse Schönheit aufwies wie seine Erinnerung an den Augenblick, als Galina Ustwolskaja damals 1951 an ihren schneeweißen Fingerknöcheln gekaut hatte, er selbst sank wieder der Erde entgegen. Noch immer saß er ruhig und aufgerichtet am Klavier und hielt die Hände flach genug, dass eine Kompanie von Spielzeugsoldaten darüber hätte hinwegmarschieren können, aber der Gebrauch seiner Gliedmaßen bereitete ihm immer größere Schmerzen, die Ärzte wussten nicht warum. Er versteckte sich in seiner verfallenen Datsche in Komarowo, außer Sichtweite von Moskau, wo die Spiegelungen weiß gekalkter Bäume auf den nassen braunen Straßen an Knochen erinnerten. Mit Besuchern unternahm er lange Spaziergänge und redete mit ihnen über das Wetter. Manchmal setzte er sich auf eine Bank, verschränkte die Arme und starrte ins Nichts, bis sie wieder gingen. Er wollte, nun, ich weiß auch nicht. Vielleicht sollte ich Roman Lasarewitsch anrufen und ihn um Rat fragen. Er wird nämlich … In weiter Ferne summte ein Bauernkind einen Ton, so hoch wie das Brummen eines deutschen Bombers über Leningrad. Das war alles sehr, wie soll ich sagen, pläsierlich. Aber die Geldsorgen trieben ihn wieder hinaus oder ihn packte das Verlangen, seine neueste Musik aufgeführt zu sehen. Er war süchtig nach den Stimmen junger Sopranistinnen, konnte sich nicht länger zurückhalten und schrieb Partien für sie. Er flirtete nun mit einer ruhigen, verheirateten Frau namens I. A. Supinskaja. Da siehst du, Elena, was für ein Glück es ist, dass du mich nicht geheiratet hast. Seine Leidenschaft erinnerte an das gesunde blonde Auflodern der Flammen in einem Ofen voller Taigaholz, aber Irina war so viel jünger als er, dass ihm der Mut fehlte, wissen Sie. Meistens verabscheute er den Anblick seines runden, blassen, müden Gesichts. Wie konnte er sich da einem anderen Menschen zumuten? Wie Lebedinski zu sagen pflegte: Bei den Frauen hast du nicht viel Glück, Dimitri Dimitrijewitsch! Oder vielleicht sollte man besser sagen, du hast dein Soll an
Reinfällen erfüllt.
50  – Danke, danke!, erwiderte er bitter. Im Prinzip war er ein Einsiedler, wie eine Molluske. Aber wenn man ihn zum Vorspielen einbestellte, konnte er sich nicht entziehen. Und so sehen wir ihn nervös in einer Fabrik sitzen, mit eingezogenen Armen vor den auf Befehl applaudierenden Babuschkas und Bauernmädchen, die dort arbeiteten. Er brauchte eine Frau, damit er, ach, egal. Für sein Land stellte er jetzt eine Bereicherung dar – obwohl seine Musik sich nicht ganz von unerwünschten Elementen hatte befreien können. Im Zentralkomitee wurde er als Beweis vorgestellt, dass wir im Wettstreit mit den Amerikanern mithalten konnten, zumindest an der Kulturfront.
    Als er zum ersten Mal ihre Hand hielt, erzählte Irina ihm, wie sehr seine Leningrader Sinfonie sie bewegt hatte. – Er zog seine Hand zurück. Er sagte: Ich habe natürlich nichts dagegen, dass du die Siebente die »Leningrader Sinfonie« nennst, aber sie handelt nicht vom belagerten Leningrad. Sie handelt von dem Leningrad, das Stalin zerstört und dem Hitler nur, sozusagen, den Rest gegeben hat.
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    Bitte sieh dich vor mit deinen Worten, Mitja … Man könnte uns …
    Das ist ja genau das, was ich, sozusagen, meine, erwiderte er mit einem selbstzufriedenen traurigen Lächeln. Er wusste, dass er wirklich gehässig war. Aber von diesem Augenblick hing viel ab. Nun war ihr klar, warum

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