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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sie ihn immer den Volksfeind Schostakowitsch nannten. Wenn sie ihn jetzt nicht abwies, nun, dann …
    Sie trug die Haare fest zu einem prüden kleinen Knoten geschlungen, den er erotisch fand. Sie war so ernsthaft wie eine kleine Choristin – o wie süß sie ihre schwarzen Partituren aufblättern und dem Dirigenten in die Augen blicken, genau wie die Kinder eines gewissen D. D. Schostakowitsch es immer getan hatten, wenn er ihnen Geschichten vorlas! Bald würden seine dicken alten Finger zwischen ihren Beinen zum Leben erwachen, mit kristallklaren Glissandi. Sie verfügte über sehr kluge Augenbrauen, die sich bei jedem ungehörigen Wort heben konnten. Manchmal, wenn sie ihn ansah, ließ sie ihr Gesicht auf ihren zarten Fingern ruhen. Er wandte den Blick ab und verspürte das gleiche verzweifelte Sehnen nach Erlösung, das ihn anno 36 zu seinem Bittgesuch an Tuchatschewski getrieben hatte. Aber diesmal ging es ihm nicht um sein Leben, sondern nur um Ruhe und Ordnung. Wenn Irina ihn nahm, würde sie freundlich zu ihm sein. Sie würde ihn sanft ins sein Grab legen.
    Er bestellte Lebedinski zu sich in die Wohnung, zum Wodkatrinken.
Er lächelte auf den Flügel herab, kitzelte höchst sanft die schwarzen Tasten und forderte den Freund auf, von Frauen zu sprechen. Lebedinski lachte und nannte ihn einen schweren Fall. Zeit für den Kaviar! Noch einen winzigen Bissen, weißt du, ein Gürkchen und dann einen Schluck vom, vom, weil, nun ja, es war so kalt heute. Lebedinski sagte nicht nein; er sprach dem Wodka gerne zu. Er tut einem gut, wie es heißt, weil … Oh, mein Kopf! Ich brauche mehr Wodka. Als er so viel heruntergekippt hatte, dass er ganz blass geworden war, flüsterte Schostakowitsch, es sei ein Segen gewesen, dass Stalin die »Lady Macbeth« zerquetscht habe, weil so seine vielleicht unbewusst ambivalente Anklage der Unterdrückung nie von der Zustimmung eines pro-sowjetischen Gegenspielers beschmutzt worden sei.
    Was für ein Zyniker du bist, Mitja! Wie kannst du dich so masochistisch winden? Mir wird ja schon vom Zuhören ganz schlecht …
    Keine Sorge; keine Sorge. Wenn der Regenwurm sich am Haken windet, dann ist das, sozusagen, bedeutungslos. Und weißt du was? Ich selbst bin mir inzwischen egal.
    Was soll das heißen, du bist dir selbst egal?
    Ich unterschreibe alles, und wenn sie es mir verkehrt herum unterschieben. Ich will nur in Ruhe gelassen werden …
52
    Er schaltete das Radio ein, und der Genosse Chruschtschow wollte wissen: Einfach gesagt – wozu brauchen die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und England Westberlin? Sie brauchen es ebenso wenig wie der Hund das fünfte Bein. Apropos, niemand hat es auf Westberlin abgesehen.
53
    Da läutete das Telefon. Er fing an zu zittern; er wollte nicht abheben, aber Lebedinski beobachtete ihn, also spielte er den Tapferen; und dann war kein Schlimmerer am Apparat als unser geschätzter Genosse Karmen, der eben einen Leninpreis für seine beiden packenden Filme über Ölarbeiter am Kaspischen Meer gewonnen hatte und ihn nun anrief, um, ist es zu fassen, ihm zu raten: Vielleicht sollten Sie in die Partei eintreten, Dimitri Dimitrijewitsch. Lassen Sie sich doch helfen! Wissen Sie, ich bin seit '36 Mitglied und es hat mir die Dinge wirklich einfacher gemacht. Es tut mir immer leid, wenn ich sehe, wie sinnlos Sie sich quälen …
    Herzlichen Dank für diesen Vorschlag, mein lieber, lieber Roman Lasarewitsch! Nach meiner nächsten, wissen Sie, Sinfonie vielleicht …
    Lebedinski bestrich sich noch eine dicke Scheibe Brot mit Butter und gluckste, nicht so laut, dass das große schwarze Telefon es hätte hören können: So macht man das, Mitja! Halt die Arschlöcher hin, bis du tot bist!
    Wie sinnlos ich mich quäle, sagt er. Und wenn ich ihn mir vorstelle, wie er Elena streichelt … Glückwunsch zu Ihrem, sozusagen, hervorragenden Werk, Roman Lasarewitsch! Ein Leninpreis, man denke nur! Ich bin wirklich sehr …
    Sie können sich darauf verlassen, dass ich bei der Partei ein gutes Wort für Sie einlegen werde.
    Roman Lasarewitsch, das ist sehr … Ich werde Ihnen Ihre Güte nie vergessen.
    Gott sei Dank bin ich das Arschloch losgeworden, nicht dass ich an Gott glauben würde, und ganz die kalte Schulter zeigen sollte ich Roman Lasarewitsch auch nicht (Lebedinski will das nicht einsehen), denn er ist dort gewesen , und jetzt meine ich einmal nicht bei ihr, nein, gar nicht; ich meine in Leningrad, o ja, meine Freunde, als wir … ha ha! Der

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