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ich habe kein absolutes Gehör und bin, wie gesagt, fast talentlos.
Lassen Sie sich das nicht einreden, meine liebe junge, darf ich Kollegin sagen? Wir Musiker unterschätzen uns selbst immer! Aber auf die genaue Tonlage kommt es nicht an. Was die jüdische Musik auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, über trauriger Intonation eine fröhliche Melodie aufzubauen.
59 Und ihr Deutschen macht es vielleicht umgekehrt, was für euch, sozusagen, ganz natürlich wäre, da ihr die Juden nicht mögt, wie ich gehört habe. Vergeben Sie mir … Ein Dur-Akkord also, wollen wir uns auf einen Dur-Akkord einigen? Schließlich sagt man Dur-Akkorden etwas Fröhliches nach. Das sagen mir jedenfalls meine, mein, die Kommissare immer.
Er sollte die Musik zu dem Film »Fünf Tage – fünf Nächte« schreiben. Stattdessen begann er mit Opus 110.
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Diese Arbeit kommentierte er Glikmann gegenüber mit den Worten: Ich habe ein ideologisch ungenügendes Quartett geschrieben, das kein Mensch braucht. Ich habe mir überlegt, dass wohl kaum jemand ein Werk zum Gedenken an mich komponieren wird, wenn ich eines Tages sterbe. Also habe ich beschlossen, selbst eines zu schreiben. Man könnte sogar auf das Titelblatt setzen: Dem Komponisten dieses Quartetts gewidmet.
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Offiziell widmete er Opus 110 natürlich »den Opfern von Krieg und Faschismus«. Warum auch nicht? Es war ja ganz egal, was er tat. Er selbst war natürlich kein Opfer, da er eingewilligt hatte, sich, Sie wissen schon.
Der Großen Sowjetischen Enzyklopädie zufolge bilden die am stärksten ausgeprägten topografischen Merkmale unseres Planeten ein ungefähres Abbild der Unterseite der Erdkruste. Die Steppen der Ukraine überdachen also das Kraton, das sie repliziert, während sich der Ural nicht nur in den Himmel reckt, sondern ebenso weit in die Tiefe vorstößt, wie Gewehrläufe, die auf das Magma zielen, auf dem unsere Kontinente schwimmen. Für mich ist der Gedanke, dass unsere Welt sich in ihrer eigenen roten, flüssigen Hölle doppelt, höchst beunruhigend. Unter meinen Füßen brodelt das Chaos. Das Chaos erleidet Erstickungsanfälle; es will frei atmen. Aber das Chaos ist von Natur aus eine formalistische Abweichung. Ich glaube noch an mich, aber nur an meine
Hässlichkeit. Erstickt das Chaos, Genossen! Selbst in den Tiefen sowjetischer Kohlebergwerke bestehen wir heute auf der flammenlosen Explosion von Sprengschlämmen, denn das ist ungefährlicher. Der Steiger gibt das Signal. Ein dumpfer Knall erstickt das erstickende Dunkel, ohne erlösendes Licht. Offiziellerseits sondert ein gewisser D. D. Schostakowitsch neue Programmmusik für die Massen ab. Und auf der Kehrseite, wo sich angeblich alles ohne Flamme vollzieht (sonst würden wir ein rotes Flackern erspähen, wenn wir zwischen den Klaviertasten ins bodenlose Dunkel blicken), komponiert sein Pendant D. D. Schostakowitsch das Opus 110.
Rundgesichtig, den Blick starr auf den Flügel gerichtet wie ein alter Droschkenkutscher aus dem Sankt Petersburg des Neunzehnten Jahrhunderts, sah er die traurige und zornige Musik aus seinen Fingern fließen. Sein Brillengestell hatte sich über die Jahre fast bis ins Durchsichtige aufgehellt. Er war jetzt kein strenger alter Mann mehr, eher ein gaffender glotzender alter Fisch. Seine Feinde lachten, er ähnele langsam Lenins Witwe, der Krupskaja, die ebenso für Wirkungslosigkeit und Glotzaugen bekannt gewesen war. (Wirkungslosigkeit! Ist es nicht das, wozu die Musik verdammt ist? Lebedinski hatte ihm von dem kleinen Nazi erzählt, K. Gerstein, der in dieeingetreten war, um ihre Geheimnisse aufzudecken und ihren Verbrechen Einhalt zu gebieten; vor dem Tribunal wurde er verurteilt, weil er keine Resultate gebracht hatte.) – Die Aktion Reinhardt ist jetzt komponiert; der Fall Blau wird im Zweiten Satz vorkommen. Erlaubt die Ouvertüre uns einen Bezug auf T-4? Aber erstickend muss das alles sein. Die Achmatowa beharrt darauf, meines Erachtens richtigerweise, dass jeder, der nicht beständig Bezug nimmt auf die Folterkammern, die uns umgeben, ein Verbrecher ist.
61 Unterirdisch, und dann werden sie erschossen! Nina und ich haben früher allnächtlich Exekutionen gehört. Jetzt liegt Nina auch unter der Erde, das muss wirklich sehr … Und dann Elena, nein. Damals konnte ich von Nina kein Mitgefühl erwarten. Was ist das für ein Laut? Was für ein fieses kleines Allegro, wie ein … Mein Rattenthema hatte wenigstens Humor, für all jene, die sich aufheitern lassen wollten. Und
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