Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
wirklich bei Marijuscha ausziehen, aber ich bin eben erst angekommen …
    Du isst ja deine Suppe gar nicht, Mitja.
    Entschuldige. Ich bin ein Schwachkopf, einfach ein …
    Schweig und iss.
    Er hob den Löffel fast bis an den Mund, dann sagte er: Glaubst du, dass Glikmann immer ehrlich zu mir ist?
    Wie kannst du so etwas denken? Er vergöttert dich! Er vertraut dir!
    Aber du hast einmal gesagt …
    Das sind die Nerven, Mitja. Du legst dich jetzt hin und schläfst. Wenn jemand anruft, sage ich, dass du nicht hier bist, versprochen.
    Der Genosse Pospelow aus dem Büro des, sozusagen, Zentralkomitees hat schon bei Glikmann angerufen …
    Ich verspreche es dir!
    Du bist ein Engel, Marijuscha! Sie sind völlig … Und dann gibt es da diesen Genossen Alexandrow, den ich … Wenn Nina doch nur …
    Leg dich jetzt schlafen und mach dir keine Sorgen.
    Aber morgen muss ich, wie ich fürchte …
    Ganz wie du willst, sagte sie mit einem mitfühlenden und zerstreuten Lächeln. Aber du weißt, du bist hier willkommen, Mitja.
    Danke, dass du das sagst. Und ich, weißt du, meinst du denn auch, dass ich durchhalten sollte?
    Du meinst, es zu unterlassen, zu … Ich werde das Radio einschalten. Na, wenn dass nicht eine deiner Filmmusiken ist, die sie spielen. So ein Glück! Ich liebe dieses Lied. Jetzt komm her. Sie können uns bestimmt nicht hören. Kusine Katerina ist Ingenieurin, und sie hat gesagt …
    Aber …
    Da läutete das Telefon.
    33
    Natürlich musst du durchhalten, Mitja. Das versteht sich doch von selbst. Wie kannst du an einen Eintritt auch nur denken? Selbst wenn sie in all diesen Schauerjahrzehnten niemandem wehgetan hätten, auch dir nicht, sie wären immer noch böse! Oh, mein lieber armer Mitja, nicht weinen …
    34
    Schließlich, flüsterte er allegro Glikmann zu, dessen unkritischer Liebe er sich wieder anvertraut hatte, also, schließlich haben sie damals anno 36 gegen mich gestimmt, sogar Sollertinski. Nur Scherbakow hat sich enthalten und hat dafür Prügel einstecken müssen! Und das Merkwürdige ist, meine Oper hat Scherbakow nicht einmal beeindruckt! Aber er hat an die Wahrheit geglaubt. Das war wirklich … Naja, eine der großen Schlachten an der Kulturfront! Hast du übrigens Roman Karmens letzten Film gesehen? »Unser Freund Indonesien«, so heißt er glaube ich, im Ernst! Unser lieber Freund! Meine Kinder wollten ihn sich unbedingt ansehen; er ist wirklich … Damals wollte ich nicht Männchen machen, aber es hört ja nicht auf, und es geht mir nicht gut; als du ihnen gesagt hast, ich sei krank, war das die Wahrheit …
    Sei tapfer, Dimitri Dimitrijewitsch! Du musst nicht eintreten!
    Du hast ganz recht! Aber, weißt du, ich, ich, na ja, ich bin so ein Schwein geworden … Meine Kinder … Was ist das für ein Umschlag?
    Ein Telegramm, sagte Glikmann traurig.
    Für mich?
    Ich fürchte ja.
    Aber Maxim bewirbt sich um Aufnahme in den Komponistenverband, und wenn ich mich weigere … Nein, ich halte durch. Dass du es weißt, ich werde nicht fahren! Vergessen wir das alles und reden wir über Tschaikowskis Sexualleben! Wusstest du, dass er eine Frau geliebt hat, die, sagen wir einfach, er … Für immer. Unglaublich, wirklich. Sie war sogar bereit, zu, weißt du. Und sie hätte ihn auch geheiratet, aber er hat ihr gesagt: Du hast so ein Glück, dass du mich nicht geheiratet hast! Mich bringt man nur mit Gewalt nach Moskau, verstehst du, nur mit Gewalt …
57
    Bitte beruhige dich, mein lieber Dimitri Dimitrijewitsch!
    Lieber bringe ich mich um! Nie im Leben trete ich bei diesen Mördern ein …
    Im Juli reiste er nach Dresden. Das gemäßigte Klima dieser neuen Deutschen Demokratischen Republik behagte ihm, besonders wohl tat es seinen Knochen und Gelenken, die inzwischen so verrottet waren wie die uralten Bohlenwege aus jener Zeit, als Leningrad noch Sankt Petersburg hieß. Ob er vielleicht die Georgi-Dimitroff-Brücke besuchen wolle, wenn er dort war? Sie rieten ihm ernsthaft, sie sich anzusehen,
aus Gründen der Solidarität. Er erwiderte, er sei natürlich außerordentlich gespannt darauf, sie, nun ja, zu sehen.
    Er erinnerte sich an die Uraufführung von R. L. Karmens Film »Genosse Dimitroff in Moskau«; Elena konnte die Finger nicht von ihm lassen; sie küssten sich schon, bevor es im Saal dunkel wurde. Und nun hieß es Genosse Schostakowitsch in Dresden! Aber ich werde nie der Genosse Schostakowitsch sein. Eher würde ich, Sie wissen schon.
    Wie seltsam, in Deutschland zu sein!

Weitere Kostenlose Bücher