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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Leiche sein, aber die Takte, in denen wir uns jetzt wiederfinden, wirken eher Silber auf Schwarz wie ein-Abzeichen. – Man muss seine Art verstehen, murmelt die Achmatowa abwehrend, als Mitjas Mutter ihnen nachgelaufen kommt: Anna Andrejewna! Entschuldigen Sie, Anna Andrejewna, ich glaube, Sie haben ihr Halstuch liegenlassen. – Die Achmatowa streckt die Hand aus, um diese Lächerlichkeit entgegenzunehmen (ständig laufen ihr Fremde mit Blumen hinterher), und bedankt sich mit der kalten Höflichkeit, für die sie so berühmt ist. Dann bemerkt sie Mitja und sagt zu ihrem Gatten: Da ist er! Da ist mein grauäugiger kleiner Prinz! – Der Junge weiß nicht, was sie redet. Seine Augen sind nicht grau. Er wird rot und flatterig und gräbt die behandschuhten Finger ineinander. Er versteht nur eins: Diese Dame liebt ihn; seine Mutter liebt sie nicht, und so, wie es aussieht, auch nicht ihren Gatten, der sich jetzt wütend das Halstusch schnappt: Los jetzt; wir kommen zu spät zum Maskenfest! Wir sind Ihnen sehr zu Dank verbunden, Madame … Sie wirbeln davon, hinein in ein Petersburg in den Farben von Katakom
ben: hellbraun, gelb, braun, alles löst sich, wie alle tote Materie es irgendwann tun muss, in nasse Erde auf. Mit einem Knall bricht Opus 110 daraus hervor, wie Eisenstreben, die aus zerstörtem Stahlbeton ragen.
    Und der ebenso zerstörte Komponist – nennen wir ihn einen Petschatnik, nach dem russischen Beamten, der in lange vergangenen Jahrhunderten das Staatssiegel bewahrte –, er erinnert sich (oder bildet es sich jedenfalls ein) an die Zeit, als die Achmatowa noch eine Göttin war und keine schaurig entstellte Herrin der Tränen, als wir in Russland noch Maskenfeste besuchen konnten, bevor im Zentrum von Petersburg die rote Dominomaske explodierte und es in Leningrad verwandelte. Entschuldigen Sie, Anna Andrejewna … Und da dehnt die Musik, die in dieser Beziehung seltsam an Scarlattis Cembalosonaten erinnert, sich immer weiter aus und durchbricht die konzentrischen Todesringe rund um Leningrad; sie erhebt sich wie die Präludien und Fugen, die er damals im op. 87 für seine liebe T. P. Nikolajewa komponiert hatte, aber weder Freude noch glückliche Flucht liegt darin; sie weitet sich wie eine Luftansicht der unbedachten Dresdner Fensterlosigkeit aus immer höherer Perspektive, eine Ansicht dieser Landschaft aus gewaltigen Fischgräten, aus Kämmen fast ganz ohne Zinken auf blendend weißem Trümmerschutt, aus zu Runen und Hakenkreuzen zerschlagenen Ziegelfassaden mit leeren Fensterhöhlen, aus offenen, der Sonne ausgesetzten Straßen und Plätzen und gekappten Nadelspitzen. Wie der Führer einst gesagt hatte: Einen Krieg kann man nicht mit den Mitteln der Heilsarmee ausfechten! Opus 110 wiederholt dieses Diktum in der Sprache der Musikinstrumente.
    Was ist das für ein Laut? In Schostakowitschs allererstem Moment nach seiner Ankunft in Dresden überflutete ihm die Musik in einem einzigen grässlichen Schrei den Schädel; er griff sich an die Brust, und die Welt drehte sich, aber sonst nichts: Ein Fräulein aus dem achtzehnten Jahrhundert streckte die steinerne Hand aus und überblickte gelassen die Zerstörung, die der Stalingrads oder Leningrads glich. Seine Dolmetscherin hatte ihm anvertraut, einen Augenblick lang habe diese von ihr einst geliebte Stadtlandschaft sie an ein Holzscheit auf dem Kaminrost erinnert, das Fleisch zu fröhlich kirschroten Flocken geröstet, und dann zersprang der Kristall, stürzte hinunter zwischen die Eisenzähne und wurde zu grauer Asche. Als es brannte, trank Hitler, der Befreier, das letzte bisschen Wärme, das er aus seinem Lagerhaus voller
deutscher Sommer noch bekommen würde. Dann erkaltete die Gralslandschaft, und es gab kein da capo al segno mehr , kein Entkommen. Schostakowitsch ist das nur allzu klar. Auch er ist nicht entkommen; und auch diesmal wird er nicht entkommen; und so zitiert er im Opus 110 voller Selbstverachtung sich selbst: das Eröffnungsmotiv des Cellokonzerts Nr. 1, das »jüdische Thema« des Klaviertrios Nr. 2: Siehst du, Elena, was für ein Glück es ist, dass du mich nicht geheiratet hast. – Wo mochte Elena jetzt sein? Bei mir nicht, bei mir nicht. (Als er mit seinen zitternden, leberfleckigen Händen die Akkorde des zweiten Satzes hinkritzelte, sah er sie als grübelndes, lächelndes Gerippe in verkohlten Lumpen vor sich, Staub im langen Silberhaar, den Schädel geradezu elegant geneigt, wie in Gedanken; sie blickte ihm lieb in

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