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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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seine Gedankenfallen an den günstigsten Alptraum-Achsen auf.) Ein Allegro wäre zu einfach. Das wäre, als würde ich mir von diesen Arschleckern in den himbeerroten Stiefeln erzählen lassen, alles müsse fröhlich klingen, in Dur! Es gibt Zeiten, da kann das Rechte zu tun mich vielleicht umbringen, aber das heißt nicht, dass es nicht das Rechte wäre. Wenn Elena hier wäre oder wenigstens Nina …
    Er nahm die Zeitung und las, eben sei ein Verräter namens M. Smolka hingerichtet worden, wegen terroristischer Aktivitäten im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes. Die letzten Worte des Verräters: Zweifelsohne sind Fahnenflucht und Verrat an den Interessen von Frieden und Sozialismus schwerste Verbrechen, die nur durch schwerste Strafe
gesühnt werden können.
62 Das Fallbeil am frühen Morgen, zweifelsohne. So machte man das in Dresden.
    In seinem fensterlosen Herzen toste flammenlos das Blut! Er vollendete Opus 110.
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    Die grundsätzlichste Aussage, die sich zu diesem Quartett treffen lässt, lautet, dass es zu traurig ist, um sich von einem Ächzen auch nur zu einem Klageruf wider das unbegreifliche Crescendo des Todes zu steigern. Gewiss, der Totentanz des zweiten Satzes strahlt so ekelerregend plastisch wie eine Natriumfackel in der Nacht (so viel zur Flammenlosigkeit!); er leuchtet so hell wie das elektrische Licht, das die Gaskammer erhellt, wenn geprüft werden muss, ob auch alle Juden tot sind; während die Bedrohlichkeit des dritten entsetzlicher ist als die Schreckensschreie in Leningrad, wenn die deutschen Bomben fielen; sie werden ewig fallen. Aber im Ganzen ist die Haltung des Quartetts die eines Ertrinkenden, der die ganz verzweifelten Zuckungen schon hinter sich hat; er hat schon Wasser in den Lungen, das grüne Wasser vor seinen Augen färbt sich schwarz, und er sinkt in den Mulm. Manche Zuhörer, die während des zweiten Satzes die Augen schließen, behaupten, einen rotierenden roten Augapfel oder eine Dominomaske zu sehen, und je schneller sie sich drehe, desto unheilvoller leuchte sie. Dieses eidetische Bild scheint für die Ankunft von etwas Bösem zu stehen. Ich persönlich habe nie einen roten Flecken wahrgenommen, vielleicht weil ich Opus 110 schon so vollendet bedrohlich finde, dass zur Verstärkung und Verfeinerung dieser Bedrohlichkeit keine Kinästhesie mehr nötig ist. Während Schostakowitschs Musik sich windet wie Finger in den schwarzen Handschuhen hinter dem Rücken eines Polizisten, versinkt der Eherne Reiter unter Sandsäcken und Brettern. Leningrad erstickt in einer Schlinge aus Stacheldraht. Bedeutung löst sich auf in reine Musik. (Und man denke nur, dass er einmal das »Schicksalsmotiv« aus Beethovens Fünfter hatte übertreffen wollen! Wo das Schicksal und alles, was dazugehört, doch, Sie wissen schon, bedeutungslos sind!)
63 Deshalb waren die Eröffnungsnoten des ersten Satzes wohlüberlegterweise so hoffnungslos wie Männer in einem Schützengraben im Schnee vor Leningrad, die ihre Maschinengewehre auf Eisbrocken auflegten.
    Westliche Kritiker behaupten, hier ein auf kuriose Weise slawisches Leid zu sehen, mindestens so alt wie die Überreste der Wolossowo-Kultur unter der Stadt Rjasan. Glikmann seinerseits pocht darauf, das Opus 110 enthalte hier und da einen Akkord aus älterer Zeit (zum Beispiel die Schreie Peters III ., nachdem er den vergifteten Wein getrunken hatte). Deshalb ist es eine Vereinfachung, zu behaupten, dieses Quartett sei einfach ein Korrektiv zur 7. Sinfonie, das Destillat der Agonie Leningrads, nachdem die Propaganda abgegossen wurde. Wie dem auch sei, was ist Leningrad? Vergessen wir kurz die Deutschen. Vergessen wir die äußeren Anlässe. (Jede Definition Gottes führt zu Häresie, sagen die Kabbalisten.)
64 Die neblige, hellbraune Seelenruhe des alten Petersburg lebt weiter. Es ist von der toten Farbe eines eingelegten Embryos; es ist mit Kirchengold gekrönt und unterlegt mit den wässrigen Labyrinthen des Handels und des Abfalls. Hier sehen wir den kleinen Mitja an der Hand seiner Mutter; er reißt sich los, ein Blatt im Wind zu fangen. Dort erspähen wir die Achmatowa und ihren ersten Mann Gumiljow (der, den wir als konterrevolutionären Verschwörer erschossen haben); sie durchstreifen die Nebel auf der Suche nach Versen! – Dieser Teil des Opus 110 ist überhaupt nicht furchterregend, kaum je melancholisch, nur slawisch. Nun, nun, liebe Freunde; ihr wisst, wie die Dinge sich, äh, entwickeln. Der zweite Satz wird ganz Messer und

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