Europe Central
Geradezu … Er blickte aus dem Zugfenster auf das satte blonde deutsche Gras und hatte ein Gefühl der Scham und der Fremdheit, als blicke er unter ein Leichentuch, auf den nackten Körper einer toten Frau. Dort drüben glitzerte die Elbe und wand sich so träge und weit wie Beethovens Takte und Pausen; dort hatten unsere alliierten Truppen sich gegen die Faschisten vereint. Und nun kamen steinerne Torbögen, geschmückt mit Figurinen und Rosetten, alles massiv und doch wie im Fluss. Dresden, würde er sagen müssen, fühlte sich schwerer an, weniger französisch als Leningrad. Elena hätte vermutlich nicht … Mein Gott, wie viele Trümmer er sah! Zwei gewölbte und geborstene einander gegenüberliegende Muschelschalen mit Steinbrocken dazwischen, das war ihre Frauenkirche. Wieder platzte ihm eine Note im Kopf. Er fragte sich, ob er kurz vor einem Schlaganfall stand; wenn er wieder in Moskau war, musste er sich über die Symptome informieren. War Lenin nicht an etwas Ähnlichem gestorben? Manchmal kam es ihm besser vor, einfach zu, nun ja.
Der Führer versuchte, ihm zu erklären, dass wir jetzt den alten schokoladenbraun gestreiften Anwesen der Junker und Kapitalisten mit der Spitzhacke zu Leibe rückten, um sie für die kollektive Landwirtschaft auszuweiden. – Sehr gut!, lachte Schostakowitsch. Vorwärtsverteidigung! An der, der, der Klassenfront, Sie wissen schon …
Die Luft war sehr feucht. Zäune, hellbraune Wände, gesprungener und von weißen Adern durchzogener Beton, dann diese alten sächsischen Häuser mit ihren orangefarbenen Dächern und eingeschlagenen Fenstern, all die kupfernen Glockentürme, die langsam erdgrün anliefen, die orangefarbenen Schindeln, die erdschwarz wurden und – ach, all die Ruinen! Es gab viele Trümmergrundstücke in Dresden. Dort war der Schutt abgeräumt worden. Glückwunsch. Sie erklärten ihm, die Statuen im Großen Garten hätten alles unbeschadet überstanden; vor allem die dekadenten Engel und der ganze Nippes. Er könne sie sich
ansehen, wenn er wolle, nur zum Spaß. Wenn er das nächste Mal käme, könnten sie fort sein, weil, nun, der Fortschritt, Sie verstehen! Wir leuchten den Weg mit einem Suchscheinwerfer aus. All die blonden kleinen Kinder mit ihren Schubkarren, die lernten, dass Würde im, nun ja, sich Abrackern lag, ich könnte kotzen. Übrigens wollten sich viele der Genossen in Dresden zur Ruhe setzen, wenn es so weit war. (Was ist das für ein Laut?) Ob er den Ort sehen wolle, wo R. Wagner damals im Neunzehnten Jahrhundert den Taktstock geschwungen habe? Leider hätten die amerikanischen Banditen, Sie wissen schon. Und ob er das neue Kinderheim »Maxim Gorki« besuchen wolle, wo ostdeutsche Schulkinder mit nordkoreanischen, die wir vor der anglo-amerikanischen Aggression gerettet hatten, friedliche Koexistenz übten? Ehrlich gesagt, genau das hatte er, äh … Sie freuten sich wirklich, das zu hören, denn zufällig erwarteten die Schulkinder ihn. Es werde ihn besonders freuen, dass ein nordkoreanischer Junge, dessen Eltern von den amerikanischen Abenteurern ermordet worden waren, extra für ihn etwas auf dem Klavier vorspielen wolle, vielleicht ein Concerto oder sogar eine Ballade oder etwas in der Art, ein Wieheißtdasgleich. Sie konnten ihm versprechen, dass es erhebend sein würde: Kunst im Kampf gegen das, was der Genosse Ulbricht klug das Gift des Skeptizismus genannt hatte.
Was die Kriegszerstörungen anging (Spuren der Brandbomben), sagte er sich: Dresden ist in Trümmer gelegt worden, gut, aber ich weiß noch, wie diese erste Granate in das Wohnhaus auf der anderen Straßenseite einschlug, und dann vier Takte Pause, und dann zischten aus dem qualmenden Loch, das ungefähr zwei Stockwerke hoch klaffte, würde ich sagen, der Schutt und die Leichen heraus! Mit einer Rührtrommel könnte man diesen Laut wiedergeben. Das war sehr … Das habt ihr Leningrad angetan. Neunhundert Tage lang! Das wart ihr. Mit euren Achtundachtzigern, glaube ich. Und dann habt ihr das Schloss Peterhof zu einem Gerippe , sozusagen, eingedeutscht …
Nun, da war es zu einem Fehler auf seinem Reiseplan gekommen. (Sie sahen, wie er zitterte.) Er würde überhaupt nicht in Dresden übernachten. Sie hatten ihm eine Unterkunft im Kurort Gohrisch besorgt, vierzig Kilometer entfernt in der sächsischen Schweiz. (Er war fast so weit, seine Drüsen schieden Musik aus, so seltsam wie die stählernen Spinnweben der zerstörten Traktorenwerke Dserschinski.) Der Genos
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