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Schostakowitsch solle daran denken, dass er Teil des Volkes sei; er müsse besser auf sich aufpassen. Seinen Besuch im Kinderheim »Maxim Gorki« werde man verschieben. Sie wussten, dass er müde war; sie wollten ihm die optimalen Bedingungen für seine Arbeit schaffen, die …
Danke, meine lieben Freunde, erwiderte er unsicher. Ich weiß, hier wird es mir, sozusagen, gutgehen …
Vor allem solle er sich um nichts Sorgen machen, sagten sie. Sie wussten, ihm war vor Anspannung eng ums Herz. Er werde bekommen, was immer er brauche. Sie schätzten ihn; sie hatten ihn zum korrespondierenden Mitglied der Akademie der Künste der DDR ernannt, mit sofortiger Wirkung. Dafür vielen Dank, meine lieben, lieben, sozusagen, Freunde. Und ich beglückwünsche euch zu eurem wundervollen Kinderheim »Maxim Gorki«. Sie hatten schon eine Besichtigung der Denkmäler Dresdens für ihn arrangiert, natürlich auch der großen Plätze und steinernen Löwen, der Springbrunnen, die nicht mehr liefen, der anderen vielbögigen Brücken Dresdens (auch des »Blauen Wunders«); und er könne so viele Opfer der Amerikaner befragen, wie er wolle. Sogar ehemalige-Offiziere arbeiten heute mit uns zusammen, so groß ist ihr Rachedurst.
58 Er werde es gewiss lohnend finden, ihre Geschichten zu vertonen; es war alles nur eine Frage der Zeit und der Kampfkraft …
Aber was haben Sie denn nur, Genosse Schostakowitsch?
Nun, ich, dieses Pfeifen im Ohr, das stört mich jetzt ständig. Ich rechne nicht damit, dass ich, ich, wissen Sie, an der Kulturfront irgendwelche großen Siege erringen werde! Das ist, wie Sie sagen, nur eine Frage der Zeit und der Kampfkraft. Aber ich, übrigens, steht die Datsche des ehemaligen faschistischen deutschen Feldmarschalls Paulus in dieser Gegend? Er war bestimmt wirklich sehr … Ja, ja, ich weiß, dass er kürzlich gestorben ist, vor drei Jahren, wenn ich mich nicht irre; ich muss es in der Prawda gelesen haben …
Seine Dolmetscherin, die vor einem ockerfarbenen Palais auf ihn wartete, war eine dunkelhaarige deutsche Schönheit mit schmalem Gesicht, wie es bei den Deutschen verbreitet ist, eine ehemalige Klavierstudentin. Etwas an der Mulde zwischen ihren Schulterblättern erinnerte ihn an Elena Konstantinowskaja, ich wollte sagen: Vigodski, nicht dass er wirklich hätte, Sie wissen schon. Mit bescheidenem Lachen gestand sie ihm, ihre Lehrer hätten sie völlig talentlos gefunden. Ihr Bruder war
an der Ostfront gefallen, beim Unternehmen Zitadelle. Ihr früherer Verlobter saß, soweit sie wusste, in einem sowjetischen Gefangenenlager. Sie war klug genug gewesen, einen anderen zu heiraten. Ihre Mutter, ihr Vater, ihre Brüder und Schwestern waren alle am 13. Februar 1945 kurz vor Mitternacht ums Leben gekommen. Sie war dabei gewesen, als die Hitlerjugend die Trümmer von ihrem Luftschutzkeller schaufelte. Sie waren fast völlig unversehrt, aber ihre Haut war goldbraun geröstet.
Schostakowitschs blasses, müdes Gesicht fing an zu zucken. So sanft er konnte legte er dem Mädchen die Hand auf die Schulter.
Überall lagen Tote auf der Straße, fuhr sie munter fort, aber Sie werden wohl auch Tote gesehen haben, auf Ihrer Seite …
Ja, ja, ja, ja, meine Liebe, o ja, aber ersparen wir uns dieses schmerzliche Thema doch lieber, denn, sehen Sie …
Entschuldigen Sie, Herr Schostakowitsch.
Oh, nennen Sie mich doch Dimitri Dimitrijewitsch, bitte.
Es tut mir leid, Dimitri Dimitrijewitsch, ich wollte nur sagen, als sie die ganzen Leichen auf den Marktplatz brachten und einäscherten …
Nun, so war es vielleicht das Beste. Nun, nun, nun, nun. In Leningrad haben sie Massengräber angelegt, als es taute. Aber, mein liebes Mädchen …
Und heute möchte ich manchmal einfach verrückt werden. Nachts höre ich das Geräusch der anfliegenden Flugzeuge. Der Bomber, meine ich.
Nun, nun, nun, nun. Schon gut. Wir sollten vielleicht etwas Kleines essen. Und haben Sie schon einmal russischen Wodka probiert? Nein, ich merke, Sie müssen darüber reden. Und können Sie mir dieses Geräusch beschreiben, das Sie hören? Haben Sie das absolute Gehör? Überraschend viele Menschen haben es, wissen Sie. Und wenn Sie vielleicht …
Ich bin mir nicht sicher. Ein leiser, vibrierender Akkord in Es-Dur vielleicht.
Na, das wäre dann der Anfang von Wagners Ring, nicht wahr? So beginnt »Das Rheingold«. Aber eine B-17 würde vielleicht in einer höheren Stimmlage singen, weil …
Es tut mir sehr leid, Dimitri Dimitrijewitsch, aber
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