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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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die Augen, und nur langsam entströmte ihren ausgebrannten Augenhöhlen das Gift, jenes unentrinnbare Gift, das die Beziehungen der Lebenden zu den Toten infiziert; es war noch immer ein Liebreiz an ihr, und im Leben hätte sie ihm gewiss nichts Böses gewollt, aber nun musste das ewige Schwarz in ihrem Lächeln ihn unweigerlich einfangen, ihn beschweren, so dass er zwischen die Zähne stürzte, dort blieb und dahinsiechte, bis er starb, und dann bis in alle Ewigkeit; er musste da weg.) Und immer, wenn überhaupt Schönheit im Opus 110 auftaucht, ist sie zerstückelt; der Tod quillt aus ihr heraus wie Gedärm voller Scheiße aus dem marmorweißen Torso einer Frau (so krepieren alle Gegner von Hitlers und Stalins Macht). Und der Tod sickert auch aus dem Schweigen zwischen den Noten hervor, dem Schweigen der Naziakten (), den acht Takten Pause, die zwischen ihm und Maxim hingen, als der Junge gestand, ihn in der Schule denunziert zu haben; aus der stickigen Luft eines Gefangenentransporters mit seinen fensterlosen Käfigen – habe ich Ihnen schon erzählt, dass die Gefangenen in der Lubjanka schweigend durch die Gänge geführt werden und den Handzeichen ihrer Wärter gehorchen, bereit, sich auf die entsprechende Geste hin mit dem Gesicht zur Wand zu stellen? Das weiß er nun schon so lange.es ist, Sie wissen schon … Manche Noten des Opus 110 werden in Akkordsärgen bestattet und andere, ohne Sarg, verwandeln sich in Einwohner Leningrads, die einer nach dem anderen in den Schnee stürzen und sterben.
    Was den Rhythmus angeht, falls Sie je dabeigewesen sind, wenn unsere Schwarzhemden in Berlin oder ihre NKWD -Kader in Leningrad
Volksfeinde verprügelt haben, dann wissen Sie, wie das ist, die Schreie, die sich abwechseln mit dem Schnappen nach Luft. Was ist das für ein Laut? Das ist das Allegro molto.
    Natürlich bin ich mit meiner Beschreibung des Opus 110 gescheitert, geradeso wie mit meiner Beschreibung des Todes; Musik bleibt letztlich unbeschreiblich, es sei denn Chrennikow und die anderen Artilleristen der Sowjetkultur komponieren sie uns in vorgefertigten Häppchen aus schillerndem, kupferummanteltem Mittelmaß. Und Schostakowitsch, der endlich in die negativen Räume unter den schwarzen Tasten des Klaviers eintritt, weitet seine Front aus, weit über die Musik hinaus, bis hinein in eine vollkommene Hölle, in der sein Leben, die Entkulakisierung und das Unternehmen Barbarossa eins werden.
    Lassen wir den zweiten Satz beiseite, wenn er dann wirklich aus seinen Achtundachtzigern losballert! Ich höre die Batterien auf den Pulkowo-Höhen; das Smolny liegt jetzt grünfleckig, braunfleckig, graufleckig unter Tarnnetzen; mein Gott, die Deutschen haben schon einen Stützpunkt in der Schreibmaschinenfabrik von Leningrad eingerichtet! Zeit, die alten Kanonen der Aurora abzuwracken … Lassen wir den dritten Satz beiseite, obwohl, ich bin da ganz Ohr. Ein Kamin wie ein Mund und darin rote Flammen; das ist sehr … Der kurze, aber hartnäckige Widerstand eines Waldthemas im letzten Satz erinnert an die Flecken grüngoldenen melodischen Grundes, die zwischen den Wolken jener hochfliegenden, atemberaubend chromatischen Fugen aufblitzen, die er einst für Tatjana Nikolajewa geschrieben hatte. Aber auch hier hat der Nebel weniger mit der Undeutlichkeit einer Neuerung gemein als mit blinder Melancholie. Wir schweben im siebten Himmel, schön und gut, aber wir wissen nicht, wie wir die Röntgenstrahlen ausschalten können, die mitten durch die Erde scheinen und die gefolterten und zerschundenen Gerippe aufleuchten lassen; wir schließen die Augen, aber die Bilder dringen uns durch die Lider. Lebedinski zufolge gedachte Schostakowitsch, als er diese Takte komponierte, der vermoosten alten Pferde auf den Brücken Leningrads und dergleichen Frivolitäten mehr, die zu zerschlagen die Revolution noch keine Zeit gefunden hatte. Sie nannten ihn einen Formalisten, aber in Wahrheit war er Klassizist. Nennen wir diesen Irrtum einfach einen Witz. Egal, immer flackert Schostakowitschs Musik mit unglaublichem Tempo von einer Stimmung zur nächsten, was heißen soll: Er ist labil. Das ist sein, sein
Markenzeichen, sozusagen (heißt das bei den Kapitalisten nicht so?). Und immer rundherum im Ringelreihen mit dem NKWD -Ensemble! Was ist das für ein Laut? Ein Zitat aus dem alten russischen Lied »Gequält von schwerer Gefangenschaft« verleiht der stickigen Kammer des Quartetts historischen Glanz, aber nicht genug, um uns zu zeigen, um

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