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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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am Ende des ersten Satzes der 7. Sinfonie erinnert) und wird dann für alle Zeit vom düsteren Sieben-Noten-Motiv verdrängt [ 41 ] , das in den Gefängniskorridoren des dritten Satzes herumspukt und dann, weit über alles zornige Knochenklappern oder alle zustoßenden feindlichen Zangenbewegungen hinaus, welche die Wahrnehmungsfilter der Hoffnungslosigkeit schon aus dem Bedrohlichen ins schlichtweg Lächerliche
übersetzt haben (Was, das riesengroße gelbe Knochengerüst hat mich mit seinen Klauen gepackt, an sein hartes Insektengesicht hinaufgerissen, gelb und gnadenlos wie die Sonne, und mich zerfleischt? Na und? Was, das miese kleine weiße Gerippe ist wie ein Krokodil aus dem Dunkel gewackelt gekommen und wollte mich umbringen? Na und? Ich bin schon längst und bis über meinen Tod hinaus zu nichts mehr nütze), die Eröffnung des ersten Satzes rekapituliert, weil das Opus 110 keinen Verlauf darstellt, sondern nur ein Gefängnis, und der Insasse (ein gewisser D. D. Schostakowitsch) ist nun beim Abschreiten seiner Mauern wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Er befindet sich im Mittelpunkt der Welt, verstehen Sie? (Der Mittelpunkt der Welt ist Leningrad, also Stalingrad, also Auschwitz.) Jeder Weg führt hierher. Infolgedessen sind die Schrecken des Opus 110 so intim wie der Rachenschleim der Musik, und von den Saiten tropfen Bitterkeit und Hass.
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    Danach wurde sein Leben so ruhig wie das abebbende Geräusch eines deutschen Bombers, der eben seine Last abgeworfen hat. Seine Freunde hielten ihn davon ab, eine Drohung wahrzumachen, die mit Schlaftabletten zu tun hatte. So einen Schrecken jagte er ihnen nie wieder ein, weil, nun, das wäre, sozusagen, lächerlich gewesen. Außerdem, ein Schostakowitsch, wissen Sie, lässt seine Kinder nicht im Stich! Warum nicht weiterarbeiten? Früher oder später würde der Tod sowieso an die Tür klopfen; der Genosse Schostakowitsch hat den Koffer schon gepackt … Im gleichen Jahr komponierte er, von den Kapitalisten fälschlich »Mozart des modernen Russlands« getauft, seine 12. Sinfonie, deren Gegenstand endlich Lenin war – eine bösartige, groteske Lenin-Satire. O ja, die war, wie soll ich sagen, auf gewisse Weise komisch, zum Schießen, wirklich, fast so lustig wie die NKWD -Agenten, die Sinowjews Winseln auf dem Weg zur Hinrichtung nachäffen. (Noch einmal!, rief der Genosse Stalin immer mit Lachtränen auf den Wangen.) Schmutzige Untertöne befleckten die Musik, und sie ging mit geschäftsmäßiger Brutalität darüber hinweg wie ein Panzer, der Leichen am Straßenrand zermalmt. Lebedinski redete ihm den Selbstmordversuch aus, und er schrieb die Sinfonie in vier Tagen völlig um, sein übliches Arbeitstempo für Filmmusik und andere Auftragsarbeiten; natür
lich wurde sie wegen ihres Gegenstandes hoch gelobt. (Für die meisten sowjetischen Kritiker war Musik so rätselhaft wie die elektrischen Eigenschaften von Bimetallen.) – Liebe Genossen!, rief er glücklich und betrunken. – Nun durfte seine 4. Sinfonie, die er 1936 vollendet hatte, endlich öffentlich aufgeführt werden. Kurz darauf errichteten unsere wachsamen deutschen Verbündeten die Berliner Mauer.
    Seine alte Nachbarin F. P. Litwinowa fragte ihn, ob seine Musik ohne die Orientierungshilfen der Partei anders ausgefallen wäre, und er erwiderte: Wissen Sie, meine liebe Flora Pawlowna, ich hätte mehr Bravour gezeigt, mehr Sarkasmus verwendet. Ich hätte, also, meine Ideen offner ausdrücken können, anstatt sie tarnen zu müssen. Ich hätte – wie soll ich das sagen? – reinere Musik schreiben können.
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    Kurz gesagt, auf dem wichtigsten aller Gebiete hatte er schon gewonnen: Seine Kandidatur für die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei unserer UdSSR war im September gutgeheißen worden! Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass er im Jahr darauf der Vollmitgliedschaft für wert befunden wurde. – Nun, nun, gluckste er betrunken. Das war das Finale, das ich immer im Kopf gehabt hatte. Ich kenne eine Frau, die sehr froh ist, dass sie mich nicht geheiratet hat!
    Was die Litwinowa angeht, sie schenkte mit bitterem Lächeln Tee nach und bemühte sich um etwas, das sie Anstand genannt hätte, um ihren Zorn zu verbergen, während er sich mit vor Gier verkrampften alten Händen noch mehr Himbeermarmelade in die Tasse löffelte. Ihr Sohn, dem Tarnung fremd war, saß nun in Sibiren, weil er es gewagt hatte, die verfluchte tschechische Parole vom Sozialismus mit menschlichem

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