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Antlitz zu rufen.
Schostakowitsch konnte nicht aufhören zu husten. Warum schwieg Flora Pawlowna so verbissen? In seinem Schädel erklang eine Salve phosphoreszierender Traurigkeit, die sich in seinem nächsten Streichquartett angemessen würde ausdrücken lassen. Was war reine Musik anderes als Formalismus? Ihm taten die Knochen weh; er wollte sich krümmen wie ein Frontsoldat (wenn du aufrecht stehst, erwischt dich der Scharfschütze), aber das könnte Flora Pawlowna falsch verstehen, denn sie hatte nicht, womit gesagt werden soll … Was genau warf sie ihm eigentlich vor? Anscheinend hatte sie einen Grund, und dabei hatte er ihr immer geholfen, ihr Marken für das Kaufhaus GUM geschenkt, sich ihre Klagen angehört, ihrem Sohn Musikstunden gegeben; was
konnte er für ihren Sohn schon tun? Der Genosse Schostakowitsch war nicht, sozusagen, der Genosse Stalin; er konnte nicht, nun ja, irgendwelche Strippen ziehen; und plötzlich fing seine Hand an zu zucken und kippte ihm Tee auf den Hosenschlitz, während er traurig zusah; die Litwinowa stand auf und holte eine Serviette. Was erwartete sie von ihm? Sollte er sich etwa bei ihr entschuldigen, für, für …?
Wenn er darüber nachdachte, hatte er der alten Schachtel eigentlich nie getraut. Einmal war er ihr in der Nähe des Hotels Leningradskaja begegnet, wo er sich mit Elena Konstantinowskaja zum Techtelmechtel traf; und Flora Pawlowna hatte getan, als kenne sie ihn nicht; er hatte nie erfahren, warum. Sie hatte sich immer mehr oder weniger wie eine Nachbarin betragen, wie eine Freundin, aber … Nicht dass er ihr Vorwürfe gemacht hätte, wenn sie, Sie wissen schon, weil, in unseren Zeiten muss jeder, wie soll ich sagen, kooperieren. Und trotzdem werfen alle allen vor, was alle getan haben! Nicht dass ich je … Deshalb lautete seine eigene Parole, eine gründliche Lehre des verstorbenen Genossen Stalin: Niemandem trauen. Nie etwas sagen – außer musikalisch natürlich. Musik ist eine sichere Sache, weil niemand sie versteht. Mit anderen Worten, nur in der Musik ist alles klar.
Vor einiger Zeit, ungefähr vor zwanzig Jahren, genauer gesagt, hatten wir gelernt, kleine Sandsäcke an unsere Panzer zu hängen, zum Schutz gegen diese aus der Hand abgefeuerten Naziraketen namens »Faustpatronen«, die aussehen wie Rohrzangen und anderthalb Ziegel dicke Mauern durchschlagen können, und genauso verhielt er sich heutzutage gegenüber Menschen wie der Litwinowa; er machte sein Fell unempfindlich gegen sie, wo er nur konnte, damit ihr Zorn ihn nicht verletzen konnte. Wenn er sich doch nur so tief und dauerhaft betrinken könnte wie Mussorgski! Dann müsste er nicht, Sie wissen schon. Nicht, dass er kein schönes Leben gehabt hätte; nach Opus 110 war alles wieder unwirklich geworden. Natürlich tat es ihm leid, dass man Pawel, den Sohn der Litwinowa, der musikalisch nicht, sozusagen, unbegabt war, in das Eis und den Moder einer Isolierzelle an der Kolyma geworfen hatte; aber so ging es uns doch allen! Seine eigene Schwester Marija hatte schließlich einst in die Verbannung gehen müssen, nicht, dass ich ihr wieder gegenübertreten möchte, nach allem, was ich getan habe – oh je, wie alt sie geworden ist! Immer wenn ich sie heute sehe, denke ich dasselbe. Ihr Gesicht ist so gelb wie der Senatspalast, so gelb wie die Ad
miralität! Ich mag mir gar nicht ausdenken, wie Elena heute aussieht. Ich mag mich selbst nicht sehen – und auch den Fall der Achmatowa sollten wir nicht übergehen und all der, Sie wissen schon; was E. E. Konstantinowskaja angeht, die ich für mein Teil nie Vigodski nennen werde – erwähnen wir sie nie wieder; dass sie im gleichen Jahr starb wie D. D. Schostakowitsch, ist sicher Zufall; und Galina Ustwolskaja war unerreichbar; Tatjana Nikolajewa war, nun ja; Nina war tot, obwohl er noch immer ein gerahmtes Foto aus jener Zeit besaß, als sie ein junges Mädchen war und ihn kess mit schief gelegtem Kopf anlächelte, sie trug ihre geblümte Bluse
68 (nach der Hochzeit mit Margarita musste das Bild vom besten Flügel verschwinden, aber als er dann Irina geheiratet hatte, konnte er es wieder aufstellen, denn Irina war lieb und großzügig); Tuchatschewski lag als Skelett in einer Baugrube; Leningrad würde nie wieder wie früher sein; Russland und Deutschland blieben eher, wie soll ich sagen; und was die Litwinowa auch immer gelitten haben mochte, es war in Opus 110 enthalten, allein schon im zweiten Satz, dessen schreckensreiche Klänge die
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