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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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eine Lücke in der Front, und er sagte: Aber wir, wir tun so, als ob, weißt du …
    Jedenfalls, sagte Irina ruhig, das Konzert war wunderschön.
    Deinen eigenen Vater hat er erschossen, ja, erschossen, und du bist naiv genug, weiter zu behaupten …
    Sei vorsichtig, Mitja! Wie dem auch sei, meine Mutter hat gesagt …
    Um dich zu schützen, du kleines Dummerchen! Verstehst du denn nicht einmal das? Und als Tochter eines polnischen Vaters, einer jüdischen Mutter, wie konntest du da nicht wissen, was auf der Welt los ist? Und was dann deiner Mutter geschah, nun, so ergeht es uns allen. Bitte, Irinotschka, bitte vergib mir meine, dass ich, dass ich auf so ungeheuerliche Weise mit dir rede; ich weiß, ich bin ein … Armes Kind! Was für große Schmerzen ich dir bereitet habe! Und dabei hast du es sowieso gewusst, nicht wahr?
    Schwer atmend sagte sie: Du sagst all das, und trotzdem bist du in die Partei eingetreten.
    Da schlug er sich immer und immer wieder mit der halb verkrüppelten Faust ins Gesicht.
    39
    Nun?, sagte sie.
    Es war Erpressung, Irinotschka … Wenn du mich liebst, wirst du das nicht wieder ausgraben … Chatschaturjan ist seit Jahren Mitglied …
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    Auch das Jahr 1964 erlebte er noch, den dreißigsten Jahrestag seiner ersten Begegnung mit Elena Konstantinowskaja; da zwang die Gebrechlichkeit seiner Gliedmaßen und Gelenke ihn, auf alle öffentlichen Auftritte zu verzichten. (Sind Relikte in der Sowjetunion nicht im Grunde eine Beleidigung der Geschichte?) Meine lieben Freunde, sind Sie mit
der Statue vertraut, die in Dresden ihre Hände verlor, beim alliierten, Sie wissen schon? So erging es nun auch D. D., wie soll ich sagen, Schostakowitsch! Die Fähigkeit, seine staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen, war ihm immerhin erhalten geblieben, und er erhob sich im Versammlungssaal, leicht zitternd und keuchend, spreizte die schmerzenden Finger wie Baumwurzeln, den Blick auf den sozialistischen Horizont jenseits des Mikrofons gerichtet, und brachte sein Vertrauen in die Zukunft zum Ausdruck. Er gehörte zu den verlässlichen Führungskadern. Wann immer er einen Vertreter der Staatsmacht erspähte, einen Polizisten oder auch nur einen Hausmeister, wurde ihm schlecht vor Angst. Mit starrem Blick auf die gelben Vorhänge tat er so, als wisse er nicht, dass die Parole in Verruf geraten war, und deklamierte vor seinen Parteigenossen:Flehentlich baten die Menschen ihn, vorsichtiger zu sein.
    Es kommt nicht darauf an, murmelte er seinen Freunden zu, es ist vorbei. Der zweite Satz war der schlimmste.
    Du bist betrunken, Mitja, und du siehst wirklich nicht gut aus. Was meinst du denn bitte damit?
    Opus 110 natürlich. Da sind wir alle gestorben. Den zweiten Satz habe ich wie eine Katjuscha geschrieben: Acht Raketenabschussrampen auf einmal! Es sollte schrecklich sein. Aber jetzt haben sie uns den Garaus gemacht, also müssen wir nicht mehr vorsichtig sein.
    Das war das Jahr, als er öffentlich E. W. Denissows Werk Le Soleil des Incas angriff. An seiner Brust prangte das goldene Strahlen seiner Medaille für die Verteidigung von Leningrad, die bewaffneten Figuren blickten nach links und hielten dem Feind eine Mauer aus Gewehren und Bajonetten entgegen; über ihnen lief mittig ein Turm in einen Sowjetstern aus.
    Mit einem Blick, als wären seine Züge so fürchterlich wie das von Bomben zerschmetterte Gesicht eines Fremden, der sich Schostakowitsch eine Viertelstunde zuvor vorgestellt hatte, fragte Denissow ihn, warum er das getan habe. Er erwiderte: Nun, nun, Edik, weil ich Angst hatte natürlich … – (Ein Parteifunktionär war dabei gewesen.) – Das ist, das ist genau dasselbe wie im Kino, wenn wir beim Horst-Wessel-Lied alle aufstehen! Oder, oder, oder bei Deutschland über alles ! Nun ja, man kann … In Wahrheit halte ich Le Soleil des Incas für ein, nun
ja, ein Meisterwerk, ein wirkliches Meisterwerk. Akustisch gesprochen, der Stacheldraht des zweiten Satzes ist so gut und sauber herausgearbeitet wie die konzentrisch angeordneten Polyeder eines Spinnennetzes. Das ist kein Werk für Dummköpfe. Ich hoffe aufrichtig, dass Sie keine Note ändern werden …
    Mitja, war Ihnen nicht klar, dass ich danach nicht länger Ihr Freund sein kann?
    Vergeben Sie mir, ich bitte Sie. Ich gebe zu, ich bin ein Schwein. Aber so ist unser, unser, unser Leben. Damals, anno 48 oder vielleicht 46, als, nun ja, selbst Maxim mich …
    Adieu, Mitja.
    Wissen Sie nicht, dass, wissen Sie nicht, dass – im

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