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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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weißen, nach hinten gefetteten Haa
re sahen aus wie in einen Klumpen Ton gekämmte Striche; es sagte weniger aus als früher – als fiele der arme Roman Lasarewitsch in die kugelige Gestalt der Urmasse zurück! Seine Lippen waren zwei blasse, halb miteinander vermengte Stangen Ton. Allein der Gedanke, dass Elena und er … Sein Kopf war tiefer in den lehmigen Hals gesunken und hatte sich zwischen den Tonbrocken festgesetzt, die wir Schultern nennen. Seine leeren Augen waren ein klein wenig eingesunken. Alles in allem hätte man ihn jederzeit ohne Vorwarnung aus dem Regal holen können, um ihm irgendeinen beliebigen Ausdruck aufzumalen, und dann hätte man ihn brennen, glasieren und ihm den letzten Schliff geben können. Aber ich bin nicht sehr … Der Regisseur warf ihm einen fragenden Blick zu und sagte einfach nur: Bin Ihnen sehr verbunden, Dimitri Dimitrijewitsch! Sie sehen nicht einen Tag älter aus! Und hier ist ein Exemplar meines neuen Buches, ein kleines Geschenk …
    Heldentaten in Kampf und Kreativität. Wie nett von Ihnen, Roman Lasarewitsch, danke! Im unwahrscheinlichen Fall, dass ich selbst einmal irgendetwas, äh, Kreatives zustande bringe, schicke ich Ihnen bestimmt ein Exemplar …
    Und dieser Dimitri Dimitrijewitsch, wer er auch sein mochte, stand auf Abruf als Redner bereit, im Blick die seltsame Stumpfheit eines Ochsen auf dem Weg zur Schlachtbank, an die wir uns aus dem Prozess gegen den ehemaligen Marschall Tuchatschewski erinnern: Die Sowjetunion unterstützt voll und ganz die gerechte Haltung des, wie soll ich das sagen, Ho Chi Minh.
    Elena hatte ihm erzählt, dass sie in den Lagern in der Arktis einer Leiche vor der Beerdigung den Schädel spalteten, nur um ganz sicherzugehen. Und dass in der Nacht, als die drei Wachen sie vergewaltigt hatten, oh, denken wir an etwas anderes. Also ging er hin, wohin sie ihn auch bestellten; er trottete über die vereisten Straßen des Mutterlandes, und Irina jonglierte zwei Koffer und hielt ihn am Arm, damit er nicht stürzte. Sobald sie wieder in Moskau waren, würde er ihr noch eine Flasche »Steinblumen«-Parfüm kaufen! In ihrer Welt wollte er leben (ein Staatsanwalt hätte sich auf ihn gestürzt); es war wirklich nicht fair gewesen, sie zu heiraten und mit hineinzuziehen in seine, seine, Sie verstehen schon. Was waren schon ein paar Schuldgefühle mehr unter Freunden? Er würde es nicht einmal merken. Sie hatten ihn schon
aus ihren Überlegungen ausgeschlossen, so wie Schostakowitsch mit der Rasierklinge veraltete Noten aus seinen Partituren schnitt; wenn die Klinge stumpf wurde, schickte er Glikmann oder Glikmanns Bruder für fünfzig Kopeken eine neue kaufen. Er verurteilte die fortgesetzte anglo-amerikanische Aggession gegen, sozusagen, Kuba, zermurmelte dabei vorsätzlich jede einzelne Seite des Redemanuskripts, reckte den Hals weg vom leichenhaften Grinsen seiner Zuhörer und blickte aus dem Fenster, auf den Schnee auf den Flachdächern asiatischer Sowjetstädte, auf den Schnee auf den Flachdächern neobürokratischer Hallen, Paläste und Wohnblocks. Selbst Irina hatte das Reisen inzwischen satt. Zuerst hatte sie gedacht, nun, er wusste nicht, was sie gedacht hatte. Warum hatte sie überhaupt ihren Mann verlassen? Vielleicht geht weder er noch ich als Mann durch. Sie will einen … Aber wie kann ich ihr gefallen, wenn ich, äh, um der unerhörten Unverfrorenheit des imperialistischen Lagers zu begegnen. Wir fordern die sofortige Bestrafung dieser, oh ja, dieser gefährlichen Feinde der Arbeiterklasse. Diese schneebedeckten Bäume mit den Schneewehen rundherum, nun, wir dürfen nicht, sozusagen, übertreiben, aber was hatten sie für einen Zweck? Er fühlte sich wie vom Notenpapier verschluckt. Immer wenn man ihn bat, sich allgemein zu äußern oder zu einer bestimmten Sache Stellung zu beziehen, erwiderte er: Ha ha! Meine liebe Dame, in diesem Leben kennen wir uns nur an unserem eigenen Frontabschnitt aus, sozusagen …
    Sollen wir den Schostakowitsch zugewiesenen Abschnitt genauer kartieren? Seine Verteidigung baute sich inzwischen erstens und im Wesentlichen aus Irina auf (die, wie ich glaube, auf ganz deutsche Weise »gemütlich« war), zweitens aus Glikmann, Lebedinski und seiner Schwester Marija, drittens aus seinen zunehmenden körperlichen Behinderungen, die in anderen Menschen Mitleid und Schuldgefühle erregten, viertens aus seiner Mitgliedschaft in der Partei, die ihn isolierte und in dem schützte, was Militärstrategen seine

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