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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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füreinander hatten. Sie trommelte mit den Fingern auf den Banketttisch. (Es kam Cliburn tatsächlich so vor, als wäre er ihr egal, was er seltsam fand, aber schließlich war dies ein fremdes Land, ein gefährliches Land, slawisches Feindesland.)
    Bitte nennen Sie mich Van, Mr. Schostakowitsch, das wäre mir eine Ehre.
    Zu freundlich!, rief der alte Herr ängstlich. Ach je! Nun, Van , danke, danke, danke; Sie können mich gerne Mitja nennen …
    Cliburn tat ihm beinahe leid. Der Junge war zu arglos.
    Vom Nebentisch aus machte die traurige junge Komponistin S. Gubaidulina ihm schöne Augen. Er wusste genau, gleich nach dem Festessen würde sie ihn festnageln und wieder von vorne damit anfangen: Sie sind es, Dimitri Dimitrijewitsch, auf den unsere Generation setzt. Bitte, ich flehe Sie an, lassen Sie sich nicht überreden, in die Partei einzutreten. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen darauf bauen, dass Sie stark bleiben …
5
    Die blonden Locken das amerikanischen Jünglings machten ihn wütend, er wusste nicht recht warum.
    Wissen Sie, Van, ich bin bei genau diesem Tschaikowski-Konzert selbst einmal Solist gewesen! In Charkow, im Sommer 1926. Lange vor dem ganzen, Sie wissen schon. Hitler hat die Stadt dreimal eingenommen, und wir haben sie zweimal zurückerobert, worauf sie … drei und zwei, wie geht das zusammen? Aber von der Altstadt wird nicht viel übrig sein. Erst hatte Feldmarschall Paulus viele Panzer, bevor wir … Bäume an den Straßen. Egal, alles vergeht. Vielleicht noch ein paar Ziegel oder … Ich zum Beispiel, ich war einmal jung! Man kann es sich kaum noch vorstellen …
    Er wollte nett sein. Aber die Berechenbarkeit der Komposition, ganz neunzehntes Jahrhundert, tat ihm weh. Oborin hatte recht; Tschaikowskis Musik verdiente es, parodiert zu werden.
    Der Junge lächelte und setzte zu einer Antwort an, aber Schostakowitsch, beschämt und nervös, erzählte immer weiter, und weil er die Stimmung lockern wollte, versuchte er, die Geschichte komisch klingen zu lassen: Sie haben vielleicht noch nie von ihm gehört, Van, aber der Dirigent war, war, war Nikolai Malko, heute beim Sinfonieorchester von Sydney. Er hat sich rührend um mich gekümmert. Ha! Anstatt zu proben, haben wir zusammen Billard gespielt! 1926, da muss ich, pardon, ungefähr in Ihrem Alter gewesen sein. Spielen Sie Billard, Van?
    Gosh , Mitja, dazu habe ich nie Zeit gehabt. Wenn Sie es mir beibringen, können wir vielleicht eine Partie versuchen …
    Schon behauptete Oborin, das Publikum habe bei Van Cliburns Auftritt nur geweint, weil eine Massenhysterie ausgebrochen sei.
    Da kam das nächste russische Mädchen mit Blumen für Vanitschka. Schüchtern bedankte er sich, hoch aufgerichtet und leicht vorgebeugt saß er da. Er wusste offenbar nicht, ob er zur Entgegennahme des Buketts aufstehen sollte oder nicht. Sie lud ihn ein, mit ihr die Premiere von »Weit ist mein Land« zu besuchen.
6 Jetzt wurde er eindeutig rot. Alle wandten den Blick ab, er tat ihnen leid. Warum kam Schostakowitsch seine Erscheinung so eigentümlich, ja, geradezu erschreckend vor? Ihn beschlich das Gefühl, irgendein Geheimnis halb vergessen zu haben. Dann fiel es ihm wieder ein: die erste Seite der Iswestija mit der Porträtgalerie der heldenhaften Generäle, die Moskau gerettet hatten, und darunter der Liebling des Genossen Stalin (wie man sich erzählte), der hochgewachsene, dünne und nervöse Wlassow, der durch strenge, schwarz gefasste Brillengläser verächtlich auf seinen eigenen Ruhm herabgeblickt hatte. Warum hatte Wlassow auf Schostakowitsch so großen Eindruck gemacht? Nein, der Eindruck musste später entstanden sein, gegen Kriegsende, als der Mann als Feigling und Verräter gehängt worden war. Da war in der Iswestija kein Foto erschienen. Begegnet waren sie einander nie. Auch war Wlassows Schicksal nicht ungewöhnlich. Aber dieses eine Bild von ihm, das Gesicht schon wie vor Angst oder aus Not gebeugt, obwohl er in Wahrheit wahrscheinlich einfach nur größer gewesen war als der Fotograf, nun, darin erkannte Schostakowitsch sich selbst. Was Vanitschka anging, der sah dem General Wlassow überhaupt nicht ähnlich. Er war hochgewachsen, gewiss, und beugte sich ängstlich vor, aber …
    Ich will dir mal was erzählen, Mitja, hatte Oborin gesagt. Einmal, bei der Vorbereitung auf ein Konzert an der Front, fuhren wir auf eine deutsche Mine. Alle außer mir kamen ums Leben. In meinem Fall war es einfach Glück und ich … Nun, jedenfalls,

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