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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Anno 44 war er durch ein Dorf gekommen, das eben von den Faschisten befreit worden war. Die Leichen baumelten grinsend im Wind. Ihr halb verwestes Lächeln war für Lebedinski das Bedrohlichste. Und jetzt hätte er schreien können, wann immer ihn jemand zu breit oder zu weiß angrinste.)
    Hastig warf Oborin ein: Denken Sie nur, Van, wie stolz man heute in Kilgore auf Sie sein wird.
    Ein wenig verunsichert, wie seine schwarze Fliege, die sich an den spitz zulaufenden Flecken Weiß klammerte (ich habe nämlich gehört, dass man in Amerika meist leger gekleidet ist), sagte der Junge: Eigentlich bin ich in Shreveport im Staat Louisiana geboren. Sie werden wohl kaum wissen, wo das liegt …
    Nein, sagte Oborin, aber ich habe gehört, dass es bei Ihnen im Süden sehr heiß wird. Fast wie in Afrika.
    Der Journalist wurde lauter und sagte: Viele Neger dort, die unter entsetzlichen Bedingungen schuften …
    Ja, heiß, sagte Van Cliburn mit Erschöpfung in der Stimme.
    Und nun begann Schostakowitsch, an der amerikanischen Seele etwas Gehetztes und Verdruckstes wahrzunehmen. Und tatsächlich, der Mann mit den himbeerfarbenen Stiefeln, der Tags darauf zu Besuch kam, sagte mit einem Augenzwinkern: Nun, Dimitri Dimitrijewitsch, er ist homosexuell. Das steht zweifelsfrei fest. Es steht in seiner Akte.
    Was Sie nicht sagen, erwiderte der Komponist mit gespieltem tiefen Erstaunen. Nun, nun, nun, das interessiert mich sehr.
    Was erwarten Sie denn von einem so dekadenten Land? Wenn es nach mir ginge (und da werden Sie mir sicher zustimmen, Dimitri Dimitrijewitsch), würde ich diesem Amerikaner die lächelnde Fresse einschlagen! Wie ich sie alle hasse. Wissen Sie noch, wie sie sich Jahr auf Jahr weigerten, die zweite Front zu eröffnen? Sie wollten, dass die Faschisten uns ausbluteten …
    Ja, ja, ja, ja, sagte Schostakowitsch, dem von dem vielen Schnaps die Schläfen schmerzten. Sie haben völlig recht, Genosse Alexandrow …
    Jedes Mal, wenn ich einen Amerikaner sehe, kommt es mir hoch. Ich muss an diese zweite Front denken und dann … Nun, Sie gehören wenigstens zu uns, Dimitri Dimitrijewitsch. Sie waren in Leningrad …
    In der Tat, das war ich, Genosse Alexandrow, und ich, ich, ich werde nie vergessen, was …
    Meine erste Frau ist den Deutschen in die Hände gefallen. Sie war eine Geisel. In Kiew.
    Nun, nun. War sie geschäftlich dort? Wenn ich das sagen darf, mein lieber Freund, manchmal ist es besser, nicht …
    Wir hatten immer geglaubt, dass sie sie einfach nur aufgehängt ha
ben, aber wissen Sie, was ich im vergangenen Jahr erfahren musste? Wissen Sie, was sie ihr vorher angetan haben? Während diese Amerikaner fröhlich abkassiert haben! Ich fange lieber nicht damit an. Wer hat ihn unsere Musik gelehrt?
    Eine Russin. Rosina Levina …
    Eine Emigrantin. Abschaum.
    Auch seine Mutter hat ihn unterrichtet, glaube ich.
    Köstlich. Ein Muttersöhnchen. Kein Wunder, dass er eine Tunte ist.
    Sie war früher Konzertpianistin, hat er mir erzählt …
    Das macht es noch schlimmer.
    Und es ist sogar noch schlimmer, Genosse Alexandrow. Sehen Sie, ich würde sogar zu behaupten wagen, dass er ein …
    Ein was? Wir brauchen alle Einzelheiten. Erzählen Sie mir alles, was Sie über das Schwein wissen …
    Wissen Sie, er ist – nun, ich teile natürlich Ihr Gefühl des, des, sozusagen, Verrats, aber in diesem speziellen Fall, nun, ich glaube wahrhaftig, er ist gerade nicht ganz da.
    Wie hätte er sagen können, was er wirklich empfand? Vielleicht wusste Cliburn mehr, als er zeigte. Aber Schostakowitsch blieb überzeugt, dass dieser Amerikaner Teil des natürlichen Vorganges des Vergessens war. Nennen wir ihn eine Bakterie auf der faulenden Leiche unserer Kriegserinnerungen. Bald würde nichts mehr von ihnen übrig sein, nicht einmal Knochen. (Er war natürlich nur ein kleiner Junge mit den Händen in den Hosentaschen.) Als Schostakowitsch zum Bachfest in Leipzig gewesen war, hatte ein deutscher Kommunist ihm feixend die Worte eines gewissen Generals von Hartmann zitiert, Kommandeur der 71. Division der 6. Armee in Stalingrad. Wenige Tage vor der endgültigen Kapitulation hatte Hartmann gesagt: Vom Sirius aus gesehen, werden auch Goethes Werke in tausend Jahren nur Staub sein und die 6. Armee ein unleserlicher Name, für alle unverständlich.
7  – Dann war er auf einen Eisenbahndamm gestiegen und hatte blind auf die Russen gefeuert, bis sie ihn abschossen. Der deutsche Kommunist fuhr fort: Ich kann nicht leugnen, dass diese

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