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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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welche gute Fee wir zur Taufe des Unternehmens Feuerzauber einzuladen vergessen haben.
    4
    Eines Abends fast fünf Jahre darauf kamen Hauptmann Hagen und ich überein, uns im Ausland-Club am Leipziger Platz auf ein Steak zu treffen. Ich war zu früh dort, also trank ich ein Bier und las, was die Zeitungen über die China-Affäre zu berichten hatten. Offen gesagt, obwohl die Japaner nun unsere Verbündeten waren und sogar als »Ehrenarier« galten, hatten mich die Gräueltaten und Eroberungszüge der Großostasiatischen Wohlstandssphäre bisher wenig interessiert. Das sagt gewiss viel über meine eigene Begrenztheit aus. Ich weiß nicht einmal, warum ich mich gerade jetzt an die China-Affäre erinnere. Schließlich bin ich nie in China gewesen. – Und inzwischen hatten wir unsere eigenen Sorgen; nennen wir sie harmonische Belastungen. Österreich, die Tschechoslowakei, Polen, Frankreich, sogar Norwegen, all diese Unternehmen waren zu einem zufriedenstellenden Abschluss gekommen (niemand wird leugnen, dass es für uns Deutsche gesund ist, wenn wir versuchen zu bekommen, was wir wollen), aber nun standen die mächtigsten Nationen der Welt gegen uns – Russland zählte ich natürlich nicht mit, da der Schlafwandler uns erklärt hatte, wir müssten nur die Tür eintreten, und das ganze verkommene Gebäude würde einstürzen; außerdem hatten wir mit diesen Russen fast für die Ewigkeit ein Freundschaftsabkommen geschlossen. Was nun? Unsere deutschen Maschinengewehre feuerten schneller als die meisten anderen Sorten, die französischen zum Beispiel, aber ein betrunkener Maschinengewehrschütze, dem man bei der Belagerung Warschaus beide Beine abgeschossen hatte, wollte von mir wissen, ob wir genug Maschinengewehre produzieren könnten, um es mit der ganzen Welt aufzunehmen. – Absolute Zuversicht, antwortete ich ihm, das ist unser Kapital. Das ist es, worauf wir bauen können.
    Aber ich war überhaupt nicht zuversichtlich. Das war nur Pfeifen im Walde. Seit Monaten schon fielen im Tiergarten britische Zeitbomben, und trotzdem hatte der Schlafwandler das Unternehmen Seelöwe abgeblasen; er wusste, dass er England nicht erobern konnte. Auch Franco wollte uns nicht helfen; der Schlafwandler hatte ihn persönlich darum ersucht, ohne Ergebnis; Franco hatte nur gelächelt und sich eine neue Zigarette angezündet; ich weiß nicht, was ich von so einem Mann halten soll.
    Und so beschäftigte sich der Schlafwandler damit, Mitteleuropa mit Wagners melodischen Burgen zu überziehen, gebaut auf Variationen
von Repetition. Aber England wurde stärker. Die Amis, unter dem Einfluss ihres Judenpräsidenten Roosevelt, halfen ihnen und konnten jederzeit in den Krieg eintreten. Derweil argumentierte der Schlafwandler: Ostpolen ist heute ein kommunistischer Satellitenstaat. Wenn wir nicht bald einschreiten, sind unsere neuen Ländereien im Osten in Gefahr; die Russen können im Handumdrehen durch die Ribbentrop-Molotow-Linie brechen. Die Reaktion darauf wird nicht ganz so einfach sein wie die Organisation einer unserer Krad-Paraden! Kurz, alles Gute war schon rationiert; jetzt kam das Schlechte. Was ging mich also China an? Und doch kann ich mich so lebhaft an jede Einzelheit dieses Abends erinnern! Wir wollen es nicht wagnerische Vorahnung nennen.
    Da wir von Vorahnungen sprechen, inzwischen bin ich mir sicher, dass Hagen schon vom Unternehmen Barbarossa wusste. Wir alle würden tapfer, hart und treu sein müssen.
    Als er eintraf, sah er grimmiger aus denn je. Er wollte kein Bier trinken, also bestellten wir eine Flasche schwärzlich-roten rumänischen Rotweins. Er sagte zu mir: Wie gut haben Sie unser Nationalepos noch im Kopf?
    Das siebenhundert Jahre alte oder das, an dem wir gerade schreiben?
    Das ist eins. Wissen Sie noch, wie Siegfried in seinem Sarg wieder zu bluten begann, als der Mörder vorüberkam? Deshalb habe ich den dunklen Wein bestellt.
    Ein altdeutscher Zug!, sagte ich. Aber Blut ist nur Blut. Als Siegfried fiel, weinte seine Frau blutige Tränen. Was hatte das zu bedeuten? Der Dichter hat es hineingeschrieben, um uns ein Zeichen des Kommenden zu geben. Die Absicht muss darin bestanden haben, Vergangenheit und Gegenwart zu vereinen, aber ich finde das billig, so wie Ihren Versuch, mit dem Wein etwas auszusagen. Wein schmeckt Ihnen nicht einmal.
    Ich bekenne mich schuldig!, sagte er mit einem Lachen. Aber wenn wir einander das nächste Mal in Bayreuth über den Weg laufen, müssen Sie sich über diese düsteren

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