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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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dem Westen bedeutet. Da das »Requiem« uns anklagt und wir uns selbst schon kennen, ist das Werk nicht von detektivischem Interesse.
    Bleibt das »Poem ohne Held«, dessen Veröffentlichung ich für meinen Teil immer willkommen geheißen hatte. Erinnern sie sich noch an die Ausstellung »Entartete Kunst«, die Hitler veranstalten ließ? Verstehen Sie mich nicht falsch, wann immer ich einen Deutschen sehe, möchte ich ihn an den Eiern aufhängen; aber ich bin Manns genug, ehrlich zu sagen: In diesem Fall hatte Hitler nicht unrecht. Nun, das »Poem ohne Held« ist so entartet wie alles, was die Nazis je verboten haben. Dargestellt wird das sogenannte »Leben« einer Bande von Parasiten und Intellektuellen in Leningrad vor der Revolution. Das war die Zeit der Symbolisten, deren Atmosphäre N. A. Berdajew angemessen als faulige Treibhausluft beschrieb.
7 Meine Kinder haben sie sogar in der Schule durchgenommen (den Lehrer habe ich verhaften lassen). Mich interessiert an dem Poem vor allem dies: Alle Figuren entstammen dem wirklichen Leben. Haben wir diese Schweine also alle identifiziert und hingeschickt, wo sie hingehören?
    3
    Einst entdeckte ich die Schönheit, doch die Schönheit, sie hat mich verlassen. Ich kann nicht behaupten, unter der Erfahrung gelitten zu haben, denn sie hat mir geholfen, dieses fahle, verträumte Gesicht schätzen zu lernen, die dunklen Augen, den dunklen Pony, die verschattete Sinnlichkeit der Achmatowa. Nach dem Krieg hing ihr Porträt in der Wohnung der Schostakowitschs in Moskau; ich weiß warum. Ihr berühmtes aristokratisches Betragen, das so viele Menschen arrogant fanden, ging Elena Konstantinowskaja, die eher schüchtern war als zurückhaltend, eher traurig als würdevoll, völlig ab. Die Gelassenheit der Achmatowa war undurchdringlich, dank einer Größe, die zu besitzen
(oder von der besessen zu sein) sie überzeugt war; die Gelassenheit der Konstantinowskaja war eine bleierne, defensive Maske. Beide Frauen erwiesen sich in der Liebe als außergewöhnlich selbstsüchtig; aber im Fall der Achmatowa können wir von einer höheren Treue zur Muse sprechen; in dem der Konstantinowskaja von einer nicht wieder gutzumachenden Enttäuschung. Im Jahr 1934 schickte sie Schostakowitsch einen Einzeiler in selbst erfundener Geheimschrift, mit der beigefügten Einladung: Wer immer dies entschlüsselt, kann mich behalten. Ich sage Ihnen gern, dass wir diese Botschaft abgefangen und unser Bestes getan haben, sie zu entschlüsseln; wir sind gescheitert. (Pjotr Alexejew wollte sie dafür drankriegen, aber ich war großzügig; ich sagte: Hände weg!) Worum es geht: Es gab offenbar einen Schlüssel zur Innenwelt der Konstantinowskaja, und nur ein Mensch außer ihr besaß ihn. Er ließ den Schlüssel aus seinen Fingern gleiten; er sagte sich: Was für einen, einen, nun ja, was für einen Fehler ich gemacht habe! O mein Gott, Ljalka; oh mein Gott … – Was ihn angeht, er hatte zwischen den Tasten des Klaviers seine eigene Welt. Er übte sich in dem, was man nach der Mode von heute innere Emigration nennt. Bei mir auf dem Amt gilt dieser Begriff nicht viel, und ich werde Ihnen sagen warum: Hindemith, von Karajan und Furtwängler machen Musik für die Hitlerianer und dann, wenn alles vorbei ist, besitzen sie die Unverfrorenheit, für sich in Anspruch zu nehmen: Ehrenwort, ich war eigentlich gar nicht hier ! Ich kann unmöglich mitgemacht haben, weil ich die ganze Zeit in meinem Kopf gelebt habe. – Wissen Sie, was ich zu so etwas sage? Ich sage: Gebt ihnen acht Gramm! Und wenn Sie nicht wissen, was das bedeutet, glauben Sie mir, es ist besser für Sie.
    Und was ist nun mit der Achmatowa? Auf gewisse Weise war in ihre Innenwelt ein jeder eingeladen, der Russisch lesen konnte. Es stimmt, dass viele ihrer sogenannten »persönlichen« Verse zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht blieben, aber in unserer Sowjetunion ist Individualismus sowieso einen Dreck wert. Der halb bösartige, halb bewundernde Spott des Selbstmordkandidaten Majakowski brachte natürlich wahre Liebe zum Ausdruck, gespeist aus reinem Papierwissen: Ikonen und Efeu, trauliche Küsse, zweideutige Umarmungen hinter den Fensterläden des alten Sankt Petersburg. Gewiss, Majakowski träumte von ihr; einmal konnte ich ihn dabei beobachten, wie er ihr durch die Pavillons der Taurischen Gärten nachstieg; aber alles, was er von ihr bekam, war
ein scheckiges Kleid im Sommer, blauer Schnee im Winter, nun ja, was alle anderen auch bekamen –

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