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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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kehrten die ungeküssten Lippen zurück und blieben für immer im gelben Nebel Leningrads über ihr hän
gen. Ich habe sie an einem blassen, mit bärtigen Köpfen geschmückten Bogengang verweilen sehen; eine Stunde verbrachte sie dort; mir wurden die Zehen kalt, das kann ich Ihnen sagen. Jede Figurine blickte sie an wie einen Geliebten. Nun, bei ihr musste man mit allem rechnen. Ungeküsste Lippen! Als der Aufbau des Sozialismus anstand! Jeder Mund war eine Schlinge – o, sie erhängte sich tausendfach! Aber von Anfang an feierte sie ihre Klage mit bunten Ikonen aus Sprache. Sie wollte sich in diesen geöffneten Lippen dem Untergang weihen. Ich habe einen Begriff für dieses Verhalten gefunden: sexuelle Asphyxie. So wie sich der Widerschein von Zaungittern in Gekräusel auflöst und dann heilend wieder zusammenfindet, wieder und wieder, so schwang sich ihr Lebens- und Liebesschmerz in die Ekstase auf und sank wieder nieder.
    Küssen, dem Kuss dann nachweinen – wer beides kennen will, muss der Liebe Ende erfahren. Als Schostakowitsch in einer Sommernacht des Jahres 1935 in Elena Konstantinowskajas Armen ruhte, in wessen Armen ruhte da die Achmatowa? In niemandes Armen. Sie lag ins nasse Gras gebettet, den Blick auf den First des Chinesischen Pavillons gerichtet. Ich war dabei; ich konnte ihre kalten Lippen zittern sehen. Schostakowitsch fand hinter Elenas Haarvorhang Erlösung. Die Achmatowa ließ sich von Schwänen und Brackwasser quälen.
    Da lernte sie schon langsam, dass unsere Macht, die Sowjetmacht, die des fernen Geliebten noch übertraf! Wir würden ihr die Zöpfe noch fester flechten …
    Ich sah sie an Gumiljows Schulter, den Blick anderswohin gerichtet als er; er trägt eine Rose über dem Herzen, Eichenlaub auf der Brust und am Ärmel; das Schwert aus Mondlicht ist zu schwach, tief in die schwarzen Wasser hinter ihnen zu schneiden; hinter den Bäumen stehen Statuen und schnüffeln ihnen nach. Ich habe allen Grund anzunehmen, dass er in diesem Augenblick an seine eigene Elena dachte, der er den Namen »Blauer Stern« gegeben hatte.
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    In jenen Jahren glaubte man bei mir auf dem Amt noch immer, ihr Zartgefühl sei wie eine regenbogenfarbene Uhr mit Kirchtürmen als Zeiger, die zum letzten Mal ihre Runde um Petersburg drehten, bevor wir das Uhrwerk zum Stehen brachten. Niemand hätte sich das »Requiem« ausmalen können; was wir mit ihr in Verbindung brachten, war »Nah am Meer«.
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    Dann, zum Teil ihrer unglücklichen Ehe geschuldet und zum Teil ihrer Veranlagung, tat sie mehr, als ihrem Leiden Ausdruck zu verleihen; sie hegte es in typisch russischer Manier wie einen Schatz! Ihre Muse beruhigte sie nicht mehr mit den Worten: Die Statuen im Sommergarten werden die Wächter deines Glückes sein. Das war der Achmatowa alles gleich. Da ihr Leiden stark war – warum sollte sie da nicht unbezwingbar sein, wenn sie ihm nur erlaubte, sie zu bestimmen? Schon im Jahr 1915 hob N. Nedobrowo die Ruhe hervor, mit der sie Schmerz und Schwäche eingesteht . [ 18 ]
9 Da schrieb Marina Zwetajewa ihr längst Liebesgedichte. Im Jahr 1916 verursachte ein Liebhaber, den ich als B. Anrep ermittelt habe, ihr eine ganz einzigartige Qual, die in ihrem Inneren leuchtete wie ein weißer Stein am Grunde eines Brunnens. (In der Trauer war sie Schostakowitsch, der ins Flattern kam und zusammenbrach, weit überlegen.) Dann machte Schileiko ihr im Scheremetjew-Palast Kummer, noch trauriger machte er sie im Marmorpalast; das war ihr Zeitvertreib. Aus Petersburg wurde Petrograd, dann Leningrad; alles um sie herum hungerte und verfiel. Die glänzenden dunklen Lippen des A. Lourie, das affektierte Gehabe der O. Glebowa-Sudejkina, die schweren Lider des sogenannten »Dichters« Kusmin, diese ganze blasse Bagage von Ästheten aus dem Kabarett »Streunender Hund«, einen nach dem anderen stießen wir sie in die Bedeutungslosigkeit.
    Glauben Sie, unsere Anna hätte irgendetwas daraus gelernt? Überhaupt nicht. Sie machte all diese Individuen in ihrem »Poem ohne Held« »unsterblich«.
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    Die Einleitung zu diesem Werk trägt die Datumszeile 25. August 1941, der Ort: »Belagertes Leningrad«, was mich wirklich sauer macht. Keinen einzigen Schuss hat sie zu unserer Verteidigung abgefeuert. Sie war also in Leningrad, als der Angriff der Faschisten begann. Ich
auch. Ich war immer dagegen, ihr den Orden zu verleihen. Aber darum geht es nicht. Seit '48 bin ich überzeugt, dass es in dem Poem eine Person gibt, eine dunkelhaarige Frau, die

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