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steinerne Brücke nach, und unten zitterte in den dunklen Wassern des Kanals der steinerne Kopf eines Kirchenmannes – noch nicht enthauptet, nur gespiegelt. – Was halten Sie von Schostakowitschs Musik, Anna Andrejewna? – Nun, natürlich gibt es da brillante Passagen, erwiderte die Achmatowa. – Die Tschukowskaja nahm sie am Arm. Dann wandten sie sich nach rechts. Um nicht aufzufallen, blieb ich zurück; ich rauchte meine Zigarette und dachte an Elena Konstantinowskaja. Pjotr Alexejew war schon in Position. Er mochte diese Ausflüge – auch wenn er viel verliebter in die beiden fröhlichen drallen Schwestern war, die in unserem Sowjetland zu Tennischampions geworden waren. Als die Achmatowa zum Liteiny-Prospekt ging, um Lew wieder ein Päckchen zu schicken, bekam er schlechte Laune; das war für ihn keine richtige Freizeit mehr. Einmal berichtete er mir, als sie an den Schalter trat und ihren Namen sagte, sei eine Frau in der langen Schlange hinter ihr in Tränen ausgebrochen. Das war uns unangenehm. Wie immer unser nächster Schritt gegen sie auch aussehen mochte, wir mussten ihn sorgfältig vorbereiten. An jenen Nachmittagen, an denen ich mich zurückfallen ließ, vergnügte ich mich damit, die Zukunft der Achmatowa zu planen. Wenn ich das satt hatte, dachte ich noch ein wenig an Elena Konstantinowskaja. Die Tschukowskaja kam immer spät und allein zurück. Ich wartete an der Brücke. Dann ging ich nach Hause und zählte dabei die zerbrochenen Fensterscheiben Leningrads.
Diese Phase stellte auf jede erdenkliche Weise den Höhepunkt meiner Karriere dar. Die Hitlerianer hatten uns noch nicht angegriffen, so dass sogar ich mir noch immer ein, zwei Illusionen über »Frieden« und »Freiheit« machen konnte; auf unseren verwöhnten Liebling Anna Andrejewna hatten wir inzwischen endlich Eindruck gemacht! N. K. Dantschenko, den wir oft bei ihr stationierten, berichtete mir dementsprechend, die Achmatowa wirke unterernährt (nicht, dass mir das nicht selbst aufgefallen wäre), und ihr Gesicht erinnere an das Leuchten eines scheckigen Kleides am Fenster .
Um zu meinem Bericht zurückzukehren: Wenn diese beiden Relikte bourgeoiser Vornehmheit ihre abgetragenen Mäntel auszogen und einander gegenüber am Küchentisch Platz nahmen, war ich stets für sie bereit.
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Ihre Versuche, uns zu täuschen, hatten inzwischen etwas Verzweifeltes und Erbärmliches. Ich weiß nicht mehr, wie oft die Achmatowa der Tschukowskaja einen neuen Fetzen mit illegaler Poesie hinhielt, den jene rasch und schweigend las, auswendig lernte, worauf sie das Blatt wieder ihrer Gastgeberin reichte, die es über einem Aschenbecher verbrannte. Ich lag auf dem Bauch, in der Wohnung über ihr, und beobachtete sie durch ein Loch im Leuchter. [ 19 ]
Wie früh der Herbst in diesem Jahr gekommen ist, sagte die Achmatowa und setzte einen weiteren auswendig gelernten Fetzen des »Requiems« in Brand.
15 Ich hatte ihn mir längst abgeschrieben. Im Grunde kannten wir das »Requiem« schon auswendig, bevor sie es vollendet hatte; man kann mit einigem Recht sagen, dass wir es geschrieben haben.
Manchmal flehte die Tschukowskaja sie an, etwas vorzutragen.
Das ist mir alles gleich, antwortete die Achmatowa dann. – Mir war auch alles gleich. Ich behaupte nicht, dass ihr nicht gelegentlich gewisse Effekte gelangen (ich spreche hier als Mensch, der etwas von Kunst versteht – natürlich nur in beruflicher Hinsicht).
Bemühen Sie sich nicht, wenn Sie müde sind, meine liebe Anna Andrejewna! Wie fühlen Sie sich?
Es ist wirklich gut, dass ich bald tot sein werde, sagte die Achmatowa.
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Die Tschukowskaja starrte sie an, ihr traten die Tränen in die Augen. O ja, es war Liebe! Von mir aus hätte man die beiden zu Gumiljow schicken können.
Praktisch betrachtet hätten die beiden auf keinen Fall weiterleben dürfen. Nur der Krieg rettete sie. Die arme Lydia – wann sollte ich sie mir greifen? Die arme Anna Andrejewna mit ihren Zahnlücken und abgebrochenen Absätzen! Es ging mir, wie es einem-Arzt gehen musste, der über seiner Sammlung jüdischer Schädel brütet, denn diese beiden Frauen waren Gespenster , die über die roten Samtteppiche vergangener
Zeiten glitten. Manchmal blickten sie einander nur in die Augen, und dann aß ich mein Mittagessen, denn es gibt einen alten russischen Brauch, seine Mahlzeiten an Gräbern einzunehmen.
Manchmal trug sie aus Rosenkranz vor, dem Band, den ich immer für ihre schwächste Sammlung gehalten habe, des
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