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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Gebete, Klopfen, auf das niemand öffnet, noch mehr Küsse, Langeweile, Verlassenwerden und Tod, was kümmerte uns das alles? Allerdings habe ich ihr immer gern beim Küssen zugesehen, das sage ich ganz ohne Scham.
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    Ihr enges schwarzes Seidenkleid hatte inzwischen Löcher, und die ovale Gemme an ihrem Gürtel hatte sie längst verkauft; wer von uns Russen brauchte nicht dringend Brot?
    Unsere Zielvorgabe für sie: Keine Sommergedichte mehr. Gib uns den grünlichen Himmel Leningrads im Herbst. Dann wissen wir, wir haben sie da, wo wir sie haben wollen.
    Im Jahr 1937 gelang uns der erste Nonstop-Flug auf der Stalin-Route, über den Pol nach Amerika, mit einer ANT -25 mit dem roten Stern auf beiden Tragflächen!
12 Ein Ereignis, das man im Gedächtnis behalten muss, möchte man meinen. Ich ließ es mir nicht nehmen, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Auch Elena Konstantinowskaja und Roman Karmen, jung verheiratet und eben aus Spanien zurückgekehrt, waren im Aerodrom. Elena erkannte mich nicht, zu meiner Erleichterung. Karmens Film für die Wochenschau sah ich mir ein halbes Dutzend mal an. Er ist wirklich nicht schlecht. Aber glauben Sie, die Achmatowa hätte sich herabgelassen, unseren Sieg mit uns zu feiern? Stattdessen polierte sie einen weiteren Edelstein an jener vergifteten Halskette namens »Requiem«.
    Im Jahr 1938 verhafteten wir ihren Sohn erneut und verurteilten ihn zum Tod durch Erschießen, aber das war immer noch ein Spiel; wir wollten nur wissen, ob wir sie damit umdrehen konnten. Ich gehörte zu jenen, die sich dafür aussprachen, seine Strafe in fünf Jahre Haft umzuwandeln, und so geschah es – nicht dass er es verdient hätte; selbst nachdem wir ihn acht Monate lang verprügelt hatten, wollte er uns noch immer die Stirn bieten.
    Da hatte sie begonnen, nach außen hin gewisse Dinge auszustrahlen, die uns höchst genehm waren: Resignation, Armut, Märtyrertum und vorgetäuschte Sanftmut (nicht dass den Bürgerlichen je zu trauen wäre, nicht einmal wenn man sie ganz am Boden hat). Dann waren da noch die Insignien des Religiösen, gegen die ich im Fall solcher Menschen
nichts einzuwenden habe; es kann nur zu unserem Vorteil sein, wenn eine sterbende Klasse sich mit dem Opium des Volkes selbst verblödet. Wir hatten sie ihres scheckigen Kleides beraubt; nun war sie nichts Besseres mehr als all die bibbernden Männer in ihren Joppen, die gebückten Frauen mit ihren Umhängen, die unter der Sonne der Suchscheinwerfer, unter dem Mond-Atem der Sterblichkeit warteten, bis sie am Schalter an der Reihe waren: Wird der Beamte mein Päckchen annehmen oder nicht? Wenn nicht, dann hatte der Mensch, für den es bestimmt war, bei Lew Gumiljow Wohnung genommen. Eines Wintertages begegnete L. Schukowa, deren Verwandte wir bereits verschickt hatten, der Achmatowa in der Schlange am Liteiny-Prospekt Nr. 4 und beschrieb sie in einem Brief als unnahbares Modepüppchen .
13 So gefiel sie uns! Leider konnte sie mit ihrer Anwesenheit noch immer jede beliebige Menge elektrisieren. Mir beweist das, dass wir noch immer nicht streng genug mit ihr gewesen waren. Sie mochte ein unnahbares Modepüppchen sein, so still wie Wasser unter dem Eis; unsere Aufgabe aber war es, sie ganz einzufrieren. Das ist uns nie gelungen: Schließlich war die Achmatowa die Dichterin des »Requiems«, das sogar unser treuer Mitläufer Schostakowitsch bewunderte und das ich, wie ich leider sagen muss, aus dem Mund von Studenten, Häftlingen, Prostituierten, Bauern und Fabrikarbeiterinnen mit Kopftuch gehört habe. Dass es in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie keine Erwähnung findet, muss nicht extra erwähnt werden. Die Geschichte hat die Korrektheit unseres Vorgehens bestätigt, mehr kann ich dazu nicht sagen.
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    Dies war die Zeit, da L. Tschukowskaja sich in die russischen Augen der Achmatowa verguckte (tiefernst, aber nicht traurig, der Blick geradeaus, aber nicht starr; wissend, zu Sanftheit und Skrupellosigkeit imstande) und zu ihrer Vertrauten wurde. In der Einleitung zu ihrem Tagebuch (ich habe es Seite für Seite gelesen) besteht die Tschukowskaja darauf: … sie selbst, ihre Worte, ihre Taten, ihr Kopf, ihre Schultern und ihre Handbewegungen waren von einer Vollkommenheit, wie sie auf dieser Erde normalerweise nur großen Kunstwerken zukommt.
14 Da sage mir einer, sie sei nicht verliebt gewesen! Später wandte die Achmatowa sich in Taschkent gegen sie, ohne jeden Grund. So sind diese Leute.
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    Ich ging ihnen über eine

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