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unveröffentlicht ließ.
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Im Grunde fing unser naiver, selbstzufriedener Mitja langsam an zu merken, was wir von ihm wollten: er sollte versuchen, ein besserer Kunsthandwerker zu werden! In jener geheimen Welt chromatischer Dissonanz, die allseits »Formalismus« genannt wurde, dort würde er ewig leben, sie würde er immer lieben; noch immer hatte er nicht geschluckt, dass Musik an einen »Inhalt« gebunden werden musste, aber da seine Gönner ihn ständig daran erinnerten, dass er das Brot des Volkes nicht nur aß, um für sich allein zu leben, versuchte er sich aufrichtig am Ideologischen, daran, seinem Talent Gefühl zu verleihen, und bis zuletzt, oder zumindest bis er das Opus 110 komponierte, würde ihm in eindringlicher Lebendigkeit die Reinheit dieses Projektes vor Augen stehen: Schaffe Schönheit und sei nützlich. Beethoven für die Baltische Flotte, wer konnte sagen, das habe nicht geholfen, den Bürgerkrieg zu gewinnen?
Wenn wir langsam aus dem Stumpfsinn des jugendlichen Egoismus erwachen, versuchen wir, uns in der Welt zurechtzufinden, im Vertrauen darauf, dass wir voller Kraft und Gesundheit werden tun können, was wir wollen, und dabei die Anforderungen der Welt erfüllen. Wann beginnt die völlige Kommunion mit der Welt? Wir sind bereit. Ist sie es auch?
Schostakowitsch war dem Genossen Stalin schon einmal persönlich begegnet – im vergangenen November auf dem Kongress der Stachanow-Arbeiter. Unter dem Kronleuchter saß der Namenspatron Stachanow, jener Bergarbeiter, der seine tägliche Norm vierzehnfach übererfüllt hatte. Neben ihm saß Ljudmilla, die preisgekrönte Arbeiterin aus der Fischkonservenfabrik; vielleicht war sie es, die eine Oper ver
diente. Egal, vielleicht wäre sie willens, ihm, Sie wissen schon. All die Heldinnen und Helden waren in Weiß gekleidet wie zu einem Hochzeitsfest, aber der Genosse Stachanow strahlte besonders fleckenlos. Er schenkte Schostakowitsch ein sommersprossiges Lächeln und wünschte ihm Ruhm und Ehre an der Kulturfront. – Danke, Genosse Stachanow! Ich werde mein Bestes tun, wollte ich sagen. – Im selben Augenblick warf ihnen der Genosse Stalin, der überraschend klein gewachsen war, quer durch den Saal einen vieldeutigen, düsteren Blick zu. Schostakowitsch fragte sich, was das zu bedeuten haben mochte, und rettete sich in den logischen Gedanken, dass ein Blick im Grunde natürlich überhaupt nichts zu bedeuten hatte. Außerdem legte ihm nun eine braunäugige Genossin, die zuvor eine umwerfende Zahl von Musiktakten lang die Beine übereinandergeschlagen und wieder entflochten hatte, ihre Hand auf die seine und flüsterte, sie habe äußerst vielversprechende Gerüchte über ihn gehört. Wann er denn in die Partei eintreten wolle? Oh je, die war ganz schön … Und so verlor Schostakowitsch sich in gewissen Hoffnungen, als die acht Orgelpfeifensäulen des Bolschoi-Theaters vor ihm aufragten.
Neben verschiedenen nervösen Musik-Apparatschiks betrat er das Vestibül. (Was für eine tolle Chance für Sie, Dimitri Dimitrijewitsch!, sagte der Regisseur. – Schostakowitsch grinste unpassend und wandte den Blick ab.) Die Kronleuchter strahlten ekelhaft auf die doppelt glitzernden schwarzen und weißen Fliesen herab, glitzernd vom grellen Licht und vom schmelzenden Schnee, der den Menschen wie schmutzige Tränen von den Schuhen rann. Man führte ihn am Flügel im großen Foyer vorbei, pianissimo seine Schritte, dann hinter die Bühne, damit er das Orchester anfeuern konnte. Sein Mund war trocken; er konnte kaum schlucken. Er blickte zur Regierungsloge hinauf, die ganz schamlos wie ein vergoldetes Himmelbett aussah; natürlich waren die Sitze unter dem roten Baldachin noch leer. Das Publikum strömte langsam in den Saal. Die Sitzreihen um ihn herum, die eine geschwungene scharlachrote Klippe bildeten, wurden von Menschen eingedunkelt. Musikliebende Möwen in einem Federkleid aus Wolle und Pelz machten es sich in ihren Nestern bequem. Schostakowitsch nahm ebenfalls seinen roten Sitz ein, umgeben von servilen Würdenträgern, und wartete darauf, dass der rote Vorhang sich hob.
Von Anfang an ging alles gut. Rund um ihn herum blickte das Publi
kum in vergnügtem Schrecken auf das Elend des vorrevolutionären Russlands: ein verrottendes Haus, hinter dem die Zwiebeltürme des reaktionären Aberglaubens aufschossen wie Giftpilze. Er hatte sich geweigert, so etwas wie eine Ouvertüre zu schreiben; wer hatte mitten in der Revolution für so etwas Zeit?
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