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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Außerdem sagten ihm die revolutionären Musikwissenschaftler immer wieder, dass Ouvertüren ihrer Inhaltsleere wegen blanker Formalismus seien, den die Menschen nicht verstehen würden. Er wolle doch kein Formalist sein, oder? Also begann der Sopran zu singen, und Schostakowitschs Musik legte sich allen auf die Schultern wie ein Schneesturm aus Trübsinn.
    Sein Leben lang bewahrte er sich das Mitgefühl für die Lage der Frauen. Seine russische Lady Macbeth – in Wahrheit, wie ich anmerken darf, die des Fabeldichters N. Leskow aus dem neunzehnten Jahrhundert – wird zur Ehebrecherin, zur dreifachen Mörderin und schließlich, verschmäht von dem Schurken, dem zuliebe sie all dies getan hat, zur Selbstmörderin. Für Leskow war sie ein Raubtier. Für Schostakowitsch war sie wunderschön, klug und zum Untergang verdammt. Wie konnte ein Mensch wie Katerina Ismailowa in der Zarenzeit, als man Mädchen brutalen alten Kaufleuten als Spielzeug verkaufen durfte, auf Glück hoffen? Deshalb enthielt das Libretto kaum ein Wort, das nicht ordinär, bösartig oder einschüchternd gewesen wäre. Die Arbeiterchöre mussten melodisch und hässlich zugleich sein – in ihrem Abschiedslied für Katerinas Gatten zum Beispiel, dessen Kadenzen er komponiert hatte, um zu vermitteln, dass rein gar nichts an der Klage der Arbeiter ehrlich gemeint war, alles aus der Einschüchterung erwuchs; wie konnte einer unter ihnen ihren dumpfen grausamen Gebieter aufrichtig vermissen? Kurz, nicht die Seele des Komponisten, sondern der ideologische Gehalt der Oper war es, der erforderte, dass eine »Melodie« immer nur kurz aufleuchten durfte, und dann nur in kurzen Manifestationen von Erotik, die sofort wieder vom schweineartigen Grunzen der Blechbläser verdorben wurden. (Was für ein Kultursoldat, unser Schostakowitsch! Sein Leben lang sollte seine Musik auf bewundernswerte Weise unerlöst bleiben.)
    Brennend vor Mitleid und Eifer hatte er schon einen ganzen Opernzyklus über Frauen in Planung. (Und wie viel weißt du denn von uns?, sagte Nina gedehnt, lachte und gab ihm einen Schmatz.) Er erweckte seine Katerina Ismailowa zum Leben und brachte sie um. Seine nächste
Heldin sollte eine tapfere Terroristin aus der Volkswillens-Bewegung sein. (Auch sie musste, wie er fürchtete, sterben.) Dann wollte er von einer Frau in der Revolution von 1905 erzählen. Ob ihre Geschichte tragisch verlief oder nicht? Es kam darauf an. Die letzte Oper musste natürlich in unserem Sowjetrussland von heute spielen, wo gilt, was der Genosse Stalin so treffend in Worte gefasst hat:. Die Heldin dieses Werkes konnte nicht länger ein Individuum, sie musste eine stilisierte kollektivierte Genossin sein – Betonmischerin, Lehrerin, Ingenieurin in einem. (Tanzen diese Stoßarbeiterinnen wirklich, wenn sie nachts von ihren Traktoren springen? So steht es hier in der Iswetija . Es klingt, wenn man so sagen darf, idiotisch. Sie sollten lieber nicht verlangen, dass ich das aufnehme in meine …) Fast sah er schon eine Frau in Rot am Steuer eines Mähdreschers vor sich, ganz von gelbem Weizen umgeben. (Vielleicht, schlug Sollertinski vor, wäre ein Aufzug von Fechtkämpferinnen auf dem Roten Platz, die ganz viel Bein zeigen, noch besser?) Der Presse erklärte er: Ich möchte einen sowjetischen Ring des Nibelungen schreiben!
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    Er liebte Katerina, vielleicht weil es sie nicht gab. Mit dieser Heldin war er nachsichtiger als mit allen anderen, sogar als mit Elena Konstantinowskaja, und Nina, die Katerina widerlich fand, hatte er erklärt: Zweck ihrer ganzen Musik ist die Rechtfertigung ihrer Verbrechen.
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    Dann schreibst du jetzt also doch Programmmusik, sagte sie trocken und stürzte ihn wieder in Verwirrung.
    Aufmerksam lauschte er den bitteren Fürzen der Trompeten, dem aufsässigen Scheppern der Blechbläser im Ersten Akt; er wusste, dass er das geistige Dunkel des vegetativen vorrevolutionären Russlands gut herübergebracht hatte; und mehr noch: dass er das Publikum mitgenommen hatte. Die Mezzosopranistin Nadeschda Welter, die in dieser »Lady Macbeth« den Part der Hure Sonjetka sang, erinnerte sich später, man sei manchmal von einem Gefühl kalter Angst und kalten Schreckens überwältigt gewesen, angesichts Schostakowitschs brillanter Art, die ewigen Themen, Gut und Böse, das Streben nach Freiheit und den Kampf mit der Gewalt, gegeneinander aufzurechnen.
22 Nun hatten die Arbeiter die Köchin in ein Fass gesperrt, betatschten sie und sangen: Lasst uns ein

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