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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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Gesicht mit Tritten bearbeitete, dort für immer eingegraben.
    Eine jubelnde Menge begleitete den Aufbruch der ersten »Optanten«, jener Pioniere einer neuen Heimat. Hellblonde Kinder (ihrer Haarfarbe wegen ausgewählt) bekränzten die Köpfe der Aufbrechenden mit Margeritenkronen. Das Rot, Schwarz und Weiß der Hakenkreuzfahnen stach ab vor dem tiefen Blau des Himmels, dem Schneeweiß der Gletscher und dem herbstlichen Goldgelb der Lärchen: ein fantastisches Bild, wie alle beton ten. Als Hermann Huber mit seiner Familie den Zug bestieg, war sein Sohn Peter vier Jahre alt, und seine Frau Johanna war mit der Tochter Annemarie schwanger. Wie es sich für einen wahren Nationalsozialisten geziemte, wollte Hermann ein Beispiel geben und gehörte zu den Ersten, die sich auf den Weg machten.
    Und er war auch einer der Letzten. Einige Monate später trat Italien in den Krieg ein, und die Umsiedlung der Optanten wurde eingestellt, obwohl sich die meisten Südtiroler dafür entschieden hatten. Wer nun aufbrach, waren die jungen Männer, die man einberufen hatte, um an der Front zu kämpfen. Ein Paradies auf deutschem Boden, einen daitschn Himml , zu schaffen, daran dachte jetzt niemand mehr.
    Als der Krieg aus war, kehrte die Familie Huber ins Tal zurück. Niemand, noch nicht einmal die »Dableiber«, waren neugierig zu erfahren, wo sie gewesen waren. An welcher Front Hermann gekämpft hatte, in welcher Division der Wehrmacht, ob er in die SS eingetreten war, ob er auch viele Zivilisten ermordet oder nur bewaffnete Gleichaltrige in Uniform getötet hatte, feindliche Soldaten, die umzubringen ja moralisch sauber war: Niemand fragte ihn danach. Und vor allen Dingen wollte niemand wissen, wie das denn nun mit dem Himmel auf Erden im Gelobten Land des Führers ausgesehen habe.
    Auf dem Soldatenfriedhof in der Hauptstadt des Tales standen nun einfache Holzkreuze inmitten turmhoher Lärchen: ein kleiner Wald für die Toten, umgeben von einem größeren Wald mit echten Bäumen. Auf den Kreuzen das Datum und der Ort, wo sie gefallen waren. Genaue Angaben: Woroschilowgrad, Aletschenka, Jesowjetowska, Triest, Cassino, Pojablie, Vermuiza. Oder allgemeiner: Kaukasus, Finnland, Normandie, Montenegro. Hin und wieder war auch nur der Kontinent angegeben: Afrika. Oder die Himmelsrichtung: im Osten.
    Viele Kreuze wurden mit Fotos versehen: untadelige junge Männer in gebügelten Uniformen, mit künstlichen Posen, der Blick bei fast keinem direkt geradeaus gerichtet, sondern eher in die Höhe oder zur Seite. Unmöglich zu sagen, ob der hier verewigte Ausdruck ihrer Augen zu ihrer Rolle bei dem erdumspannenden Gemetzel passte. Vielleicht hatte dieser verträumt dreinblickende achtzehnjährige Bursche eine schwangere Frau mit einer MG-Garbe niedergemäht. Vielleicht hatte dieser SS-Unterscharführer mit den eiskalten Augen sich einem Gefangenen gegenüber barmherzig gezeigt. Viele waren wohl beides gewesen: brutal und menschlich. Aber das wollte niemand mehr wissen. Es waren die Söhne, die Väter und Brüder derer, die jetzt die zerstörten Häuser wiederaufbauten. Niemand fragte danach, ob sie als bescheidene Helden, als Feiglinge oder als Peiniger gestorben waren.
    »Optanten« und »Dableiber«, die Feinde von einst, fanden sich in dem Wunsch vereint, das, was vorgefallen war, nicht allzu genau zu benennen. Nazi, Kollaborateur, Denunziant, Kriegsverbrecher, Konzentrationslagerführer: Dies waren keine Bezeichnungen, sondern Blindgänger, um die herum man sich nur auf Zehenspitzen bewegen durfte, damit es nicht zur fürchterlichsten Explosion kam, der der Wahrheit. Zu hoch waren die Trümmerberge, die noch fortzuräumen waren, zu groß der Hunger, zu zahlreich die Toten, um die getrauert wurde. Selbst den granitenen Alpino mit seiner Miene dümmlicher Entschlossenheit hatten die Bomben der Alliierten vom Sockel geholt. Nein, es war sinnlos, zurückzuschauen und von irgendjemandem Rechenschaft zu verlangen. Auch von Hermann nicht.
    Dies war die Abmachung, sie wurde nicht ausgesprochen, aber alle hielten sich daran.
    In dem Haus, in dem die Familie Huber vor dem Krieg gelebt hatte, wohnte nun Alberto Ruotolo, ein Eisenbahner. Wie Tau sende andere Einwanderer war auch er Mussolinis Aufforderung gefolgt und hatte sein Viertel Vomero in Neapel verlassen, um Südtirol zu italianisieren. Und auch der neue Staat, die Republik Italien, brauchte ihn sowie das gesamte faschistische Beamtentum weiterhin, um die Infrastruktur des Landes

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