Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
dem Wagen und hielt das Feuer in Gang, indem sie mit einer kleinen Metallschaufel das Brennmaterial ringförmig verteilte. Ein Fehler hätte das Ende bedeuten können, denn bei zu hohen Flammen wäre der Tank explodiert und der ganze Laster in die Luft geflogen – und sie mit ihm. Hatte sich die Anlasserkurbel ein wenig erwärmt und das gefrorene Kondenswasser, das sie blockiert hatte, wieder verflüssigt, kehrte Gerda ins Haus zurück, nahm eine Tasse Kaffee, den ihre Mutter unterdessen auf dem mit Holz gefeuerten Küchenherd gekocht hatte, trat ans Bett ihres Vaters und weckte ihn. Wenn Hermann den Laster bestieg und den Motor anließ, war es für Gerda schon Zeit, sich für die Schule fertig zu machen.
Eines Morgens, es war noch dunkel, hielt Gerda ihrem Vater wie immer den Kaffee vor die Nase. Doch er wurde nicht gleich wach. Er träumte noch. Endlich öffnete er ein klein wenig die glanzlosen Augen.
»Mamme …« , murmelte er.
Seine Mutter war wieder da! Stand neben ihm, hatte ihm eine Tasse dampfender Milch ans Bett gebracht, so wie früher, wenn er als Kind krank war.
Gerda erschrak: Diesen unschuldigen, vertrauensvollen Blick hatte sie bei ihrem Vater noch nie gesehen.
»Tata … i bin’s. Die Gerda« , sagte sie.
Hermann blinzelte und schlug die Augen auf. Der gleiche Mund, die gleichen Wangenknochen, die gleichen Augen wie seine Mutter, aber es war nur seine Tochter. Da wurde er sich bewusst, wie er sie gerade genannt hatte, und konnte es ihr nie mehr verzeihen.
Im Sommer, wenn der Lkw-Motor nicht erwärmt werden musste, zog Gerda mit ihren Cousins zur Alm hinauf, um dort die Kühe von Onkel Hans zu hüten, dem älteren Bruder von Hermann, der den Hof geerbt hatte.
Die Alm lag einen halben Tagesmarsch vom Hof entfernt, zu weit, um jeden Abend heimkehren zu können, und so schliefen Gerda und ihre Vettern Michl und Simon, die ungefähr in ihrem Alter waren, sowie der kleine Sebastian, Wastl genannt, in einer Almhütte im Heu. Die Zeit vertrieben sie sich, indem sie sich den Bauch mit Heidelbeeren vollschlugen, sich mit Ginsterbeeren be spuckten, Zweige schnitzten oder einander jene Körperteile zeigten, die bei ihnen unterschiedlich waren. Nur im äußersten Notfall rannten sie den Kühen nach, die sich entfernt hatten. Wenn es regnete, oder noch besser, wenn es donnerte, schlüpften sie tief ins warme Heu und erzählten sich Schauergeschichten, die meistens von bösen Berggeistern handelten. Dreimal die Woche brachte Hans’ Frau Schüttelbrot, Speck und Käse vorbei.
Gerda war die Einzige, die bei den Kühen immer ohne Stock auskam, denn folgsam wie gigantische Hündchen liefen ihr die Tiere freiwillig nach. Auch die Vettern wären Gerda überallhin gefolgt. Wenn Simon und Michl viele Jahrzehnte später an diese Nächte zurückdachten, mit Gerda im Heu, während der kleine Wastl neben ihnen schlief, ließ die Erinnerung an ihr blon des Schamhaar, das ihr hochgerutschtes, abgetragenes Kleidchen enthüllte, ihnen immer noch das Blut in die unteren Körperre-
gionen strömen.
Eines Morgens in solch einem Sommer kam ein englischer Bergsteiger, der sich verirrt hatte, des Weges und erblickte aus einiger Entfernung Gerda. Die Augen halb geschlossen, saß sie unter einer Zirbelkiefer und erzeugte mit einem Grashalm vor den Lippen Pfiffe so schrill und scharf wie Glas. Ihre schlammverkrusteten Füße und ihre nackten Beine schauten unter einem zerlumpten Baumwollkleidchen hervor, während ihr schmutziges Haar im Nacken mit einem schmalen, geflochtenen Lederband zusammengebunden war. Doch der Engländer sah die rosigen Wangen, die runde Stirn, den fleischigen Mund, die lang gezogenen hellblauen Augen und dachte, kein Zweifel, das ist das schönste kleine Mädchen, das ich je gesehen habe. Der Gedanke, weiterzugehen und sie niemals mehr wiederzusehen, schien ihm unerträglich. Lange betrachtete er sie, bevor er sich zu erkennen gab. Er vergaß die Tour, die er gehen wollte, und blieb den ganzen Tag bei Gerda und ihren Vettern auf der Alm.
Er teilte mit ihnen den Proviant, den er im Rucksack dabeihatte, und als er Gerda lachen hörte, beschloss er, alles zu tun, um diesen Klang länger zu hören. Seinen Wanderstock schwingend, rannte er den Kühen nach und bellte dabei wie ein Hütehund, hängte sich eine Kuhglocke um den Hals und begann wie eine Kuh zu weiden, kaute lange und schluckte dann tatsächlich das Gras hinunter. Und Gerda lachte und freute sich. Dann machte er die englische Königin Elizabeth
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