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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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Macht.
    Peter begann, immer mehr Zeit allein im Wald zu verbringen. Jeder seiner Schritte auf dem dicken Humusboden, den Milliarden von Lärchennadeln in Jahrtausenden aufgeschichtet hatten, hallte von den metertief abfallenden kahlen Felsen wie von einer Trommel wider. Diese sanften Schläge, während er mit geschärften Sinnen und mit der Steinschleuder in der Hand durch den Wald lief, waren für ihn der schönste Klang auf Erden. Hier fühl te er sich zu Hause, und Eichhörnchen und Füchse, Marder, Auer hähne und Elstern sah er als seine Gefährten. Natürlich lernte er sie zu töten, aber zunächst lernte er, sie geduldig zu beobachten, stundenlang darauf zu lauern, dass sie sich zeigten. Er war ein hervorragender Schütze, und bald schon konnte er sich mit dem Geld, das ihm der Hutmacher für Felle und Federn zahlte, sein erstes Gewehr kaufen.
    Obwohl sie damals noch sehr klein war, erinnerte sich Gerda ihr Leben lang an den Tag, als Peter seinen ersten Hirsch nach Hause brachte. Er hatte ihn sich auf die Schultern geladen und trug ihn um den Hals, indem er mit den Händen fast zärtlich seine Hufe hielt. Der Kopf des Hirsches aber baumelte an Peters Rücken hin und her, das Maul geöffnet, aus dem die Zunge heraushing: eine blutige Version des Guten Hirten. Gerda war fasziniert von dem Kontrast zwischen der bereits leblosen Materie der trüben Augen und dem sich noch so weich anfühlenden Fell. Lange Zeit wurde sie den süßlichen Geruch des Blutes nicht mehr los, der ihr in die Nase gestiegen war, als Peter den Hirsch häutete, und auch nicht den von Tierfett und -nerven aus dem größten Topf, den Johanna besaß, über dessen Rand das lange elegante Geweih hervorschaute. Hätte Gerda nicht zuvor mit eigenen Augen gesehen, wie Peter mit einem sauberen Schnitt den Kopf des Tieres vom Rumpf trennte, hätte sie fast glauben können, der ganze Hirsch spiele noch Verstecken in einem Topf, dessen Fassungsvermögen irgendein Zauber erweitert hatte.
    Jedenfalls wurde der Schädel gekocht und sorgfältig entfleischt, denn Peter war sicher, einen ordentlichen Preis zu erzielen, wenn er ihn als Trophäe verkaufte.
    Bevor die Optanten aufgebrochen waren, hatten sie auf die italienische Staatsbürgerschaft verzichtet, und nun fanden sich die »Rücksiedler« als Staatenlose wieder. Ohne Papiere, ohne Arbeit, ohne Respekt war die erste Zeit für die Familie Huber wie für die anderen Bewohner Schanghais besonders hart. Die Mutter des Zahnarztes im Städtchen, eine Baronin, bot Johanna eine Stelle als Bedienstete in ihrem Haus an, aber davon wollte Hermann nichts wissen: Solange er lebte, würde seine Frau nicht arbeiten gehen. Damit war es an Peter, die Familienkasse aufzubessern, der mit zwölf Jahren eine Stelle im Sägewerk antrat. Als Annemarie damit anfing, die Treppe in der Schule zu putzen, war sie gerade mal zehn und damit jünger als die Schüler der letzten Klassen. Doch die Mühen waren nicht umsonst: Nachdem Hermann einige Jahre lang für andere Lastwagen gefahren war, hatte er genug zur Seite gelegt, um einen eigenen anzahlen zu können.
    Drei Jahre waren seit dem Kriegsende vergangen, als die italienische Regierung mit einem gnädigen Federstrich alle Folgen der Option tilgte und die Rücksiedler, die es wünschten, wieder ihre italienische Staatsbürgerschaft erhielten. Der Hermann früherer Zeiten hätte sich niemals die Erleichterung vorstellen kön nen, die er an jenem Tag empfand, als man ihm die Papiere aus händigte, die ihn und seine Familie erneut zu italienischen Staats bürgern machten.
    Nun gehörte auch Schanghai zum mittlerweile republikanischen Staat Italien.
    Als Gerda acht war, übernahm sie von der Mutter die Aufgabe, den Motor von Hermanns Lastwagen anzuwärmen. Nachts um drei stand sie auf, warf sich, ohne sich auch nur kurz das Gesicht zu waschen, den Mantel über und trat, zur dunkelsten Stunde, in die eisige Winternacht hinaus. Die Unterbrechung des Schlafes war aber noch schmerzhafter als die Kälte, die sie jetzt wie ein Schlag ins noch verschlafene Gesicht traf. Hermann konnte seinen Laster nachts nirgendwo unterstellen. Bevor man am Morgen den Motor anlassen konnte, musste man zunächst die eingefrorene Anlasserkurbel vorn an der Schnauze freibekommen. Mit Händen, rauer als die einer Wäscherin, entfachte Gerda aus Papier und Sägespänen mit so wenigen Streichhölzern wie möglich ein kleines Feuer unter dem Motorblock. In der klirrenden Kälte hockte sie auf allen vieren neben

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