Evas Auge
Kräfte, sie hörte ein Stück hinter sich seine Schritte, lief um das Haus herum, sah eine weitere Hecke, konnte sich hindurchquetschen und ein weiteres Grundstück überqueren, entschied sich aber dagegen, rannte wieder um das Haus herum und blieb auf der anderen Seite stehen, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er zur Hecke rannte, er glaubte, sie sei schon auf deren anderer Seite angelangt, aber sie rannte jetzt wieder auf die Straße, hielt sich am Straßenrand, damit ihre Absätze auf dem Asphalt nicht klapperten, entdeckte tief unter sich die Hauptstraße und die ersten Autoscheinwerfer, blickte sich nicht mehr um, sondern lief mit keuchendem Atem und berstender Lunge weiter und sah endlich ein Auto, es fuhr langsam, sie sprang auf die Straße und hörte die Bremsen kreischen. Wie ein Sack sank sie auf der Motorhaube in sich zusammen. Sejer starrte sie durch die Windschutzscheibe erschrocken an. Sie erkannte ihn erst nach einigen Sekunden. Dann fuhr sie herum, jagte über die Straße, lief auf eine Auffahrt auf der anderen Seite, hörte, wie er sein Auto herumriß, wie es anhielt, wie eine Autotür aufgestoßen wurde, hörte seine Schritte auf dem Bürgersteig. Evas Kräfte ebbten ab, sie rannte noch immer, ihr Rock flatterte ihr um die Beine. Sejer kam hinter ihr her, er lief über den Kiesweg, trotz des Hämmerns in ihren Ohren konnte sie ihn deutlich hören, danach kam ein anderes Geräusch, ein bekanntes Geräusch, bei dem sich ihre Kehle zusammenschnürte. Ein Hund. Kollberg wollte mitspielen. Begeistert sah er zu, wie sein Herr davonstürzte, der große Hund brauchte nur wenige Sekunden, um Sejer einzuholen, er wedelte eifrig mit dem Schwanz, sprang hoch und zupfte an Sejers Jacke, dann bemerkte er plötzlich die Frau, die mit flatterndem Rock ein Stück weiter vorn durch den halbdunklen Garten rannte, vergaß Sejer und stürzte hinter Eva her. Eva drehte sich um und sah den großen Hund mit der roten Schnauze, seine Zunge pendelte hin und her, während er durch den Garten jagte. Eva dachte nicht mehr an Sejer, sie floh vor dem Hund, vor den gelben Zähnen und den riesigen Pfoten, die sich in langen Sprüngen durch das nasse Gras fraßen, die die Entfernung zwischen ihnen gierig verschlangen. Zwischen den alten Apfelbäumen stand ein kleines Spielhaus. Eva stürzte weiter, ihre Kräfte waren fast aufgebraucht, sie riß die Tür auf und zog sie hinter sich ins Schloß. Hier war sie vor dem Hund sicher. Hier war sie zumindest vor dem Hund sicher.
Sejer atmete durch und ging langsam auf das Häuschen zu. Er streichelte den Hund, der enttäuscht kehrtgemacht hatte, und Kollberg wurde wieder lebendig, tanzte um Sejer herum und lief vor ihm her zur Tür. Sejer öffnete sie vorsichtig. Eva kauerte neben einem gedeckten Tisch auf dem Boden. Auf der weißen Tischdecke standen eine winzigkleine Kaffeekanne und zwei Porzellantassen. Neben Eva lag auf dem Boden eine vergessene Puppe mit kurzgeschorenen Haaren.
»Eva Magnus«, sagte Sejer leise. »Sie müssen bitte mit zur Wache kommen.«
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E va kehrte in die Wirklichkeit zurück.
Sie blickte zu Sejer auf, verwundert, weil er noch immer dasaß.
Jetzt hätte er sie vielleicht bitten können, zur Sache zu kommen, aber das tat er nicht. Er konnte sich die Wartezeit als Überstunden anrechnen lassen, Eva hatte nicht solches Glück. Sie hatte noch immer ihren Mantel an, jetzt steckte sie die Hand in die Tasche und suchte dort nach irgend etwas.
»Zigarette?« fragte er und nahm seine eigenen hervor, die, die er nie berührte.
Er gab ihr Feuer, schwieg weiterhin, sah, daß sie versuchte, sich zu sammeln, einen Anfang zu finden, eine gute Ausgangsposition. Das Blut um ihren Mund gerann jetzt langsam, ihre Unterlippe war angeschwollen. Sie konnte nicht ins Haus zurück. Deshalb fing sie endlich mit dem Anfang an. Mit dem Tag, an dem Emma in Ferien gefahren war, an dem Eva den Bus in die Innenstadt genommen hatte. Sie stand frierend in der Nedre Storgate, kehrte dem Warenhaus Glassmagasinet den Rücken zu und hatte neununddreißig Kronen in der Brieftasche und in der Hand eine Plastiktüte. Mit der anderen Hand hielt sie sich am Hals den Mantel zusammen. Es war der letzte Tag im September, es war kalt.
Es war elf Uhr vormittags, sie hätte eigentlich zu Hause an der Arbeit sein müssen, aber sie war aus dem Haus geflohen. Zuerst hatte sie Elektrizitätswerk und Post angerufen, hatte um Gnade gefleht, nur noch ein paar Tage, dann würde sie bezahlen. Der Strom
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