Evas Auge
wurde dann auch nicht abgestellt, schließlich hatte sie ein minderjähriges Kind, aber das Telefon sollte später am Tag gesperrt werden. Wenn das Haus abbrannte, dann würden sie in den Ruinen leben müssen, sie hatte die Versicherung nicht bezahlt. Jede Woche lag eine neue Inkassomeldung in ihrem Briefkasten. Das Stipendium vom staatlichen Kunstrat verspätete sich. Der Kühlschrank war leer. Die neununddreißig Kronen waren alles, was sie hatte. In ihrem Atelier stapelten sich die Bilder, die Arbeit mehrerer Jahre, die niemand kaufen wollte. Eva blickte nach links, in Richtung Platz, dort sah sie die Leuchtreklame der Sparkasse. Vor einigen Monaten war die Sparkasse ausgeraubt worden. Der Mann im Trainingsanzug war nach weniger als zwei Minuten mit vierhunderttausend Kronen davongestürzt. Also nach ungefähr hundert Sekunden, überlegte Eva. Spuren gab es nicht. Sie schüttelte resigniert den Kopf und schaute zum Farbladen hinüber, dann sah sie in ihre Plastiktüte, in der eine Sprühdose mit Fixativ lag. Die hatte hundertzwei Kronen gekostet und funktionierte nicht. Etwas stimmte nicht mit dem Ventil, nichts kam heraus, oder, schlimmer noch, plötzlich ergoß sich der Inhalt über ein Bild und ruinierte es. Wie zum Beispiel die Skizze ihres Vaters, die ihr so gut gelungen war. Eva konnte sich kein neues Fixativ leisten, sie mußte die defekte Dose umtauschen. Für ihre wenigen verbliebenen Kronen bekam sie nur Milch und Brot und Kaffee, danach war Schluß. Das Problem war nur, daß Emma wie ein Pferd fraß, ein Brot hielt nicht lange vor. Eva hatte beim Kunstrat angerufen, und das Stipendium sollte »in den nächsten Tagen« überwiesen werden, es konnte also noch eine Woche dauern. Wovon sie am nächsten Tag leben sollte, ahnte sie einfach nicht. Dieses Wissen nahm ihr nicht ganz den Atem, und sie geriet auch nicht in Panik, sie war daran gewöhnt, von der Hand in den Mund zu leben, das machten sie schon seit Jahren so. Seit sie mit Emma allein war und keinen Mann mehr hatte, der Geld verdiente. Irgend etwas würde sich schon ergeben, das war doch immer so. Aber die Sorge saß in ihrer Brust wie ein harter Stachel, im Laufe der Jahre hatte sie Eva innerlich ausgehöhlt. Ab und zu schien die Wirklichkeit ins Schwanken zu geraten, und sie schien zu grummeln wie ein sich ankündigendes Erdbeben. Das einzige, was Eva festhielt, war die alles überschattende Aufgabe, Emmas Hunger zu stillen. Solange sie Emma hatte, hatte sie auch einen Anker. An diesem Tag war Emma bei ihrem Vater, und Eva suchte etwas, woran sie sich festhalten konnte. Das einzige, was sie hatte, war die Plastiktüte.
Eva war groß und trotzig zugleich, blaß und verängstigt, aber in den vielen Jahren ohne Geld hatte sie gelernt, ihre Phantasie zu benutzen. Vielleicht könnte ich Geld verlangen statt einer neuen Dose, überlegte sie, dann hätte sie noch hundertzwei Kronen, um Lebensmittel zu kaufen. Es war nur ein bißchen peinlich, darum zu bitten. Sie war schließlich Künstlerin, sie brauchte Fixativ, und das wußte auch der Farbhändler. Vielleicht sollte sie in den Laden stürzen und eine wilde Szene machen, die schwierige Kundin spielen, mit der Verbraucherzentrale drohen, herumschreien und sich aufspielen, und der Händler würde dann vielleicht begreifen, was Sache war, daß sie eigentlich pleite und verzweifelt war, und er würde ihr das Geld zurückgeben. Er war ein freundlicher Mensch. So einer wie Père Tanguy, der als Bezahlung aus einer Leinwand von Van Gogh eine rosa Krabbe herausgeschnitten hatte. Abgesehen davon, daß der dann eine Tube Farbe gekauft hatte, lieber verzichtete er aufs Essen. Das tat Eva im Grunde auch gern, aber sie hatte ein Kind mit gierigem Appetit, was bei dem Niederländer nicht der Fall gewesen war. Sie riß sich zusammen, überquerte die Straße und ging in den Laden. Dort war es angenehm warm, und es roch wie bei ihr zu Hause im Atelier. Eine junge Frau stand in der Parfümabteilung hinter dem Tresen, sie blätterte in einem Buch mit Farbmustern von Haartönungen. Der Farbhändler selber war nicht zu sehen.
»Ich wollte das hier zurückbringen«, sagte Eva energisch. »Das Ventil funktioniert nicht. Ich möchte mein Geld zurück.«
Die Frau machte ein abweisendes Gesicht und nahm die Plastiktüte entgegen.
»Das können Sie nicht hier gekauft haben«, sagte sie mürrisch. »Diese Sorte Haarspray führen wir nicht.«
Eva verdrehte die Augen. »Das ist kein Haarspray, sondern Fixativ«, sagte sie
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