Evas Auge
verzweifelt. »Ich habe wegen dieser Dose eine ziemlich gute Skizze ruiniert.«
Die Frau errötete, nahm die Dose und versuchte, damit über Evas Kopf hinwegzusprühen. Nichts kam heraus.
»Ich gebe Ihnen eine andere«, sagte sie kurz.
»Das Geld«, beharrte Eva verbissen. »Ich kenne den Chef hier. Der würde mir das Geld geben.«
»Wieso denn?« fragte die andere.
»Weil ich darum bitte. Das nennt man Service«, sagte Eva schroff.
Die Frau seufzte, sie stand noch nicht lange hinter dem Tresen, und außerdem war sie zwanzig Jahre jünger als Eva. Sie öffnete die Kasse und nahm einen Hunderter und zwei Kronenstücke heraus.
»Unterschreiben Sie hier.«
Eva schrieb ihren Namen, nahm das Geld und ging aus dem Laden. Sie versuchte, sich zu entspannen. Jetzt würde sie vielleicht noch zwei Tage überstehen. Sie addierte in Gedanken und kam auf hunderteinundvierzig, fast genug, um sich im Warenhauscafé eine Tasse Kaffee zu gönnen. Wenn es da keine Speisepflicht gab. Sie überquerte die Straße und ging durch die sich einladend öffnenden Glastüren. Warf einen raschen Blick in die Buch-und Papierabteilung und wollte zur Rolltreppe, als sie eine Frau entdeckte, die vor einem Regal stand und Eva den Rücken zukehrte. Eine runde, dunkelhaarige Frau mitkurzgeschnittenen Haaren. Sie stand ganz still da und blätterte in einem Buch. Nun drehte sie sich halb um. Es waren viele Jahre vergangen, aber ihr Gesicht war nicht zu verkennen. Eva fuhr zurück, sie traute ihren eigenen Augen nicht. Plötzlich war sie um viele Jahre in der Zeit zurückversetzt, bis zu dem Tag, als sie mit fünfzehn Jahren zu Hause auf der Steintreppe gesessen hatte. Ihr ganzes Hab und Gut war in Kartons gepackt und in einem Möbelwagen verstaut worden. Eva starrte den Wagen an, konnte nicht fassen, daß alles in dem kleinen Auto Platz gefunden hatte, Haus und Garage und Keller waren doch voll gewesen. Sie zogen um. Im Moment schienen sie nirgendwo zu wohnen, das war scheußlich. Eva wollte nicht umziehen. Ihr Vater ging mit unruhigem Blick umher und schien zu fürchten, sie könnten etwas vergessen. Endlich hatte er Arbeit gefunden. Aber er wich Evas Blick aus.
Dann knirschte der Kies, und eine vertraute Gestalt bog um die Ecke.
»Ich mußte doch auf Wiedersehen sagen«, sagte sie.
Eva nickte.
»Wir können uns doch schreiben? Ich habe noch nie Leuten Briefe geschrieben. Kommst du in den Sommerferien zu Besuch?«
»Keine Ahnung«, murmelte Eva.
Sie würde niemals eine neue Freundin finden, da war sie sich sicher. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten alles geteilt. Niemand sonst würde wissen, wie ihr zu Mute war. Die Zukunft war eine elende graue Landschaft, Eva hätte heulen können. Die andere umarmte sie verlegen, dann war sie verschwunden. Es war fast fünfundzwanzig Jahre her, und seither hatten sie sich nicht wiedergesehen. Bis heute.
»Maja?« fragte Eva zaghaft und wartete gespannt. Die Frau drehte sich um und versuchte, die Fragerin zu finden, dann entdeckte sie Eva. Ihre Augen weiteten sich.
»Aber du meine Güte, ich mag ja meinen eigenen Augen kaum trauen! Eva Marie! Meine Güte, du bist ja vielleicht groß
geworden!«
»Und du bist noch kleiner als in meiner Erinnerung.«
Sie schwiegen ein Weilchen, plötzlich verlegen, sie musterten einander, um ja kein Detail zu übersehen, alle Veränderungen, die vergangenen Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen, jede erkannte in den Runzeln und Falten der anderen ihren eigenen Verfall, und danach suchten sie nach allem, was sie so gut kannten, und was noch immer vorhanden war. Maja sagte: »Jetzt gehen wir ins Café. Komm, wir müssen uns ausquatschen, Eva. Du wohnst also immer noch hier? Du wohnst wirklich immer noch hier?«
Sie legte Eva den Arm um die Taille und schob sie zur Treppe, noch immer verwundert, aber ganz die Alte, wie in Evas Erinnerung, lebhaft, redselig, energisch und immer sprudelnd vor Energie, mit anderen Worten: das genaue Gegenteil Evas. Himmel, sie hatten sich gegenseitig so gebraucht!
»Ich bin einfach nicht weitergekommen«, sagte Eva. »Es ist ein unseliger Wohnort, ich hätte damals nicht mit umziehen dürfen.«
»Du bist noch genau wie früher«, Maja lachte. »Immer negativ. Komm, wir nehmen den Fenstertisch dahinten.«
Sie liefen los und ließen sich auf die Stühle fallen. Maja sprang wieder auf.
»Du paßt auf meinen Platz auf, und ich gehe etwas holen. Was möchtest du?«
»Nur Kaffee.«
»Du brauchst ein Stück Sahnetorte«, protestierte
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