Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
und kletterte vom Pferd, dabei hatte ich nur Augen für die Wunden, die die Hirschkuh an Hals und Flanke hatte. »Sie leidet.«
Caleb näherte sich ihr mit ruhigem Schritt. »Schon gut«, beruhigte er sie leise. Er umfasste den Hals des Tieres und zog sein Messer. »Alles wird gut.« Dann wiederholte er flüsternd etwas, das ihr die Angst zu nehmen schien. Er hielt ihr das Messer an den Hals. Mit einer schnellen Bewegung schlitzte er ihr die Kehle auf, das Blut spritzte auf den Kiesstrand und färbte das Wasser rot.
Die Tränen kamen schnell und heiß, mein Körper zitterte, als ich zusah, wie das Leben aus den Augen des Tieres wich.
Ich war mit dem Tod groß geworden. Ich hatte ihn rings um mich auf den Gesichtern der Nachbarn gesehen, die Schlafsäcke in ihre Gärten zerrten, um ihre Angehörigen dort zu begraben. Ich hatte ihn durch das Autofenster in den Menschenschlangen gesehen, die vor Apotheken randalierten und deren Haut bereits rot und fleckig war. Ich hatte ihn bei meiner Mutter gesehen, als sie auf der Veranda stand und das Blut aus ihrer Nase tropfte.
Doch ich war zwölf Jahre lang in der Schule in Sicherheit gewesen. Die Mauern schützten mich, die Ärzte waren da, um zu helfen, um meinen Hals hing die Warnpfeife. Als Caleb den Kopf des Tieres mit seinen Händen umfasste, weinte ich heftiger als je zuvor in meinem Leben. Denn er war hier und lauerte auf mich: der Tod, der unausweichliche Tod, überall. Immer.
VIERZEHN
Bevor ich am nächsten Morgen auch nur den Kopf von der Matratze heben konnte, musste ich daran denken, wie Caleb das Tier getötet hatte. Die Jungen hatten auf den Hirsch gewartet und ihn ins Höhlencamp geschleppt, indem sie die Beine des Tiers an einem abgebrochenen Ast festbanden. Ich zog mich schnell in unser Höhlenzimmer zurück, wo Arden schlief. Ich konnte den Anblick nicht ertragen, wie sie die Hirschkuh aufschlitzten und ihr die Haut abzogen, unter der das weiche Fleisch zum Vorschein kam.
Ich drehte die Laterne neben unserem Bett an, die das Zimmer in ein weiches weißes Licht tauchte. Caleb hatte uns einen Stapel saubere Kleider gebracht, die im See gewaschen worden waren. Ich zog ein Button-Down-Hemd an. Noch immer hatte ich keine Ahnung, wo der Besitzer der Kinderbücher steckte oder warum er sein Zimmer verlassen hatte. Auf einer Seite des Tisches lag ein Notizbuch. Ich nahm es und las die vier einfachen Worte: Mein Name ist Paul. Die Handschrift sah krakelig aus, die Abstände zwischen den Buchstaben waren unregelmäßig. Mir fiel ein, was Caleb über die Jungen gesagt hatte: dass sie in gewisser Weise noch schlimmer dran gewesen waren als die Mädchen. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie man Ruby in diesen Saal mit den schmalen Betten getrieben hatte. Ich hörte sie den Ärzten Fragen stellen, auf diese unschuldige Art, die nur sie an sich hatte. »Wo sind unsere Bücher? Wann fahren wir zum ersten Mal in die Stadt aus Sand? Warum werden wir am Bett festgegurtet?« Sie hatten uns so viel genommen, aber wir hatten wenigstens eine Sache im Austausch dafür bekommen: Ich konnte lesen und schreiben und meinen Namen buchstabieren.
Hinter mir patschten nackte Füße auf den Erdboden. Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um eine winzige Gestalt auf mich zurennen zu sehen, die mir das Notizbuch aus der Hand riss. Der Junge hatte verfilzte hellbraune Haare und trug eine dreckige Latzhose ohne ein Shirt darunter.
»Wo kommst du denn her?«, fragte ich sanft, denn ich wollte ihn nicht erschrecken. »Wer bist du?«
»Das gehört meinem Bruder.« Er hielt das Notizbuch wie eine Trophäe in die Höhe.
»Ich wollte nicht herumschnüffeln«, erwiderte ich langsam und konnte den Blick nicht von seinem schmalen Körper abwenden. Ich dachte an die kleinen Mädchen in der Schule – ein Jahr unter uns, dann zwei Jahre, dann drei. Je stärker der König anfing, die Menschen in der Stadt aus Sand anzusiedeln, und gezielt Waisenkinder aussuchte, umso mehr schrumpften die Klassen zu nichts. Von Zeit zu Zeit fand man im Wald einige Kinder, die nach der Epidemie von Streunern zur Welt gebracht worden waren, aber das kam selten vor. Ich hatte schon ewig kein so kleines Kind mehr gesehen. Und ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals ein männliches Kind gesehen zu haben. »Ich wollte bloß –«
»Er hat versucht, Lesen zu lernen«, erklärte der Junge. Mit einem Zeh kickte er einen Stein über die Erde. Er konnte kaum älter als sechs sein und hatte den Gesichtsausdruck
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