Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
tauchten.
Ich war jetzt vollständig unter Wasser, mir pochte das Blut in den Ohren. Ich konnte hören, wie die Luft aus meinen Lungen strömte, die Bläschen trieben nach oben dem Himmel entgegen und ließen mich im kalten Wasser zurück. Caleb war einen halben Meter vor mir, seine Augen waren geöffnet, seine Hände hielten meine fest umfasst. Sein Gesicht war so sanft, so ehrlich und lieb, dass ich – wenn auch nur für einen Augenblick – vergaß, dass wir so verschieden waren. Dass er dem anderen Geschlecht angehörte, vor dem man mich gewarnt und das ich mein Leben lang gefürchtet hatte.
In diesem Moment war er einfach nur Caleb. Ich lächelte und er lächelte, unsere Arme bildeten in der Stille des Wassers einen Kreis.
Wir blieben draußen, bis der Himmel dunkel wurde. Ich übte, die Luft anzuhalten und so lange unterzutauchen, bis ich keine Miene mehr verzog, wenn das Wasser mich verschluckte. Caleb brachte mir bei, im Wasser zu treten und mich unter der Oberfläche vorwärtszustoßen. Er zeigte mir, wie ich mich treiben lassen konnte; während ich tief Luft holte, stützten seine Finger meinen Rücken knapp über meinem Po. Ich schloss die Augen und versuchte, mir einzureden, meine bleichen Beine wären nicht entblößt und der nasse Pullover würde nicht jede Rundung meines Körpers betonen.
Als wir durch den Wald zurückliefen, färbte sich der Himmel bereits von Purpur zu Grau, die trockenen Piniennadeln knackten unter unseren Füßen. Ich wickelte mir das Handtuch um die Schultern, aber ich konnte nicht aufhören zu zittern. Caleb zog sein Sweatshirt aus und bot es mir an. Er rollte die Ärmel hoch, weil sie mir sonst über die Hände gereicht hätten.
»Ich bin fertig mit dem Buch. Ich war die ganze Nacht auf, um zu lesen«, sagte ich, während ich den dicken weichen Stoff enger um mich zog. Das Shirt war noch warm von seinem Körper und ich fror schon weniger. »Du hattest recht. Es hat nicht viel mit der Geschichte zu tun, die man mir erzählt hat.«
»Ich dachte, beim zweiten Mal ist es vielleicht sogar besser.« Aus seinen Dreadlocks tropfte ihm Wasser auf den Rücken und schlängelte sich um seine ausgeprägten Schultermuskeln.
»Ich habe mich gefragt …«, setzte ich an. »Woher weißt du so viel über die Welt außerhalb der Arbeitslager?«, fragte ich. »Wie bist du hierhergekommen? Woher wusstest du, wohin du gehen musstest? Erzähl es mir.«
Wir liefen einen schmalen Pfad hinunter und duckten uns unter tief hängenden Ästen weg. Er ging vor mir her, hielt Zweige hoch, damit ich darunter durchgehen konnte, anschließend übernahm er wieder die Führung, um es dann von Neuem zu tun.
»Die Wochen nach Ashers Tod waren seltsam«, erklärte er und sah auf den Weg. »Leif weigerte sich zu arbeiten und verbrachte die meisten Nächte in Einzelhaft. Alle anderen Jungen hatten Angst, etwas zu tun, was die Wächter reizen könnte. Zu den wenigen Dingen, die in den Arbeitslagern erlaubt waren, gehörten die schwarzen Metallfunkgeräte, und so lagen die Jungen auf ihren Schlafstellen und hörten sich die Sendungen aus der Stadt aus Sand an.«
»Ein paar dieser Sendungen hab ich in der Schule auch gehört«, sagte ich und wrang das Wasser aus meinen langen Haaren. Einmal im Monat hatten wir uns in der Aula versammelt und den Geschichten gelauscht, was alles in der Stadt passierte. Der König erzählte von gewaltigen Wolkenkratzern, die gebaut wurden, oder von den neuen Schulen, die für die Kinder innerhalb der Stadtmauern öffneten. Er baute in der Wüste – Etwas aus Nichts, nannte er es – und rings um die Stadt wurden so hohe Mauern errichtet, dass alle Bewohner in Sicherheit waren. Vor Rebellen, vor Krankheit, vor den Gefahren der Welt. Damals hatte ich seine Worte tröstlich gefunden. »Aus dem Mund des Königs klang es so beeindruckend und aufregend.«
Caleb kickte mit dem bloßen Fuß einen Stein vor sich her. »Ich erinnere mich an diese Stimme. Ich werde mich immer daran erinnern.« Er trat den Stein in den Wald, sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich und Röte überzog seine Haut. »Die Waisenkinder, die in der Stadt arbeiteten, erwähnte er nie. Oder dass Jungen, die gerade mal sieben Jahre waren, vierzehn Stunden am Tag bei weit über vierzig Grad Hitze Gebäude abrissen. Dass einige von einstürzenden Mauern erschlagen wurden oder von Wolkenkratzern stürzten. Oder dass die Mädchen als Zuchtstuten missbraucht wurden. Aus seinem Mund klang es, als stünde das großartige
Weitere Kostenlose Bücher