Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
Neue Amerika jedem offen, als hätten wir alle daran teil, aber in Wirklichkeit wurde es auf dem Rücken der Waisen errichtet. Der einzige Platz für uns war unter ihren Füßen.«
Ich streifte im Laufen mit der Hand über das hohe Gras am Wegrand. »Und wer erzieht die Kinder? Die Überlebenden in der Stadt?«
»In diesem Augenblick sitzen sie in ihren neuen Häusern, die auf Kanäle blicken, die vierzehnjährige Jungen ausgeschachtet haben, und füttern ihre Kinder, die ihnen achtzehnjährige Mädchen geboren haben, oder sie laufen auf ihren Indoorpisten Ski oder speisen in Restaurants auf den Dächern der Wolkenkratzer, wo Waisen ohne Bezahlung arbeiten. Es ist widerwärtig.« Er verzog das Gesicht.
»Wie bist du entkommen?«, bohrte ich noch einmal. Ich dachte an die Schrecken dieses Arbeitslagers, an Asher, der mit Felsbrocken auf den Beinen mutterseelenallein in der Wildnis lag, oder an kleine Jungen wie Silas, die Steine auf ihrem Rücken schleppten.
»Es passierte eines Nachts nach einer ganz besonders dreisten Rede über den neuen königlichen Palast«, setzte Caleb an und streckte seine Hand nach hinten, um mir über einen Felsen zu helfen. »Ich konnte nicht schlafen. Ich starrte ununterbrochen auf die leeren Schlafstellen von Leif und Asher. Die Wächter hatten einen zwei Jahre alten Jungen im Wald gefunden. Er hatte seine Eltern gerade erst verloren und er schluchzte. Nicht nur die Epidemie sorgte für Waisen«, Caleb machte eine Pause, um es zu erklären. »Die Lebensbedingungen danach waren so schwierig, es herrschte ein solches Chaos auf der Welt, dass viele Kinder ihre Eltern auch noch nach der Epidemie verloren. Ich war so abgestumpft, dass ich einfach zwei Stunden zuhörte, wie er weinte. Eine Bande hatte seine Mutter erschossen. Es war mir egal. Ich war innerlich leer. Es konnte mich nicht berühren, denn in mir gab es nichts mehr, was berührt werden konnte. Ich war so …« Caleb blieb mitten auf dem Weg stehen und drehte sich zu mir um. Er räusperte sich und wählte seine Worte sorgfältig. »Ich war gefühllos. Dafür schäme ich mich heute noch.« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er so kalt gewesen war – nicht nachdem er den Kopf der Hirschkuh in den Händen gehalten und ihr weiches Fell gestreichelt hatte, bis sie tot war.
Caleb griff nach einem Ast und rieb mit den Fingern über die raue Rinde. »Ich fing an, über alles nachzudenken, und mir wurde klar, dass ich nicht länger dort leben konnte. Es hatte sowieso nichts mit Leben zu tun, es war kein Leben. Ich war verängstigt und verzweifelt. Und ich hielt das Funkgerät in der Hand und drehte bloß daran herum.« Er atmete tief aus. Seine Finger bewegten sich nicht mehr. »Da hörte ich eine Stimme. Sie erzählte völlig unsinnige Dinge.«
»Was sagte sie denn?«, wollte ich wissen und rückte näher an ihn, damit kein Abstand mehr zwischen uns war.
»Ich werde diesen ersten Satz nie vergessen. Er lautete: ›Er suchte Glück in Blumen, Tieren. Hofft in Liebe für Eloise.‹«
Ich beugte mich vor, als könne ich die Bedeutung eher verstehen, wenn ich noch näher bei ihm war. »Wer ist Eloise? Ich verstehe kein Wort.« Aus den Bergen kam eine Windbö, unter der sich die Bäume bogen. Über Calebs Gesicht huschten Schatten.
»Zuerst war ich mir nicht sicher. Der Mann redete auf diese Art immer weiter. Er wiederholte es ein paarmal, danach folgten andere rätselhafte Sätze. Er sagte die Worte immer wieder mit dieser sehnsüchtigen Stimme. Ich sah mich um, ob ich irgendwie in einer Parallelwelt gelandet war, ob ich träumte oder so was. Und nachdem er es das zehnte Mal wiederholt hatte, hörte ich auf, nach dem Sinn des Satzes zu suchen, und lauschte der Art, wie er es sagte. Er versuchte, mir etwas klarzumachen, in seiner Stimme lag beinahe etwas Flehendes.« Caleb sah auf, unsere Blicke begegneten sich. Seine Augen waren rot und feucht. »Er suchte Glück in Blumen, Tieren. Hofft in Liebe für Eloise –«
»E«, unterbrach ich ihn und spürte, wie mich Gefühle überwältigten, die mir die Kehle zuschnürten. »S-G-I-B-T-H-I-L-F-E.«
Caleb lächelte und plötzlich existierte die übrige Welt nicht mehr – die Bäume, der Pfad, die Berge, der Himmel –, es gab nur noch uns.
»Genau.« Er nickte. »Es gibt Hilfe.« Er streckte die Hand aus und ich nahm sie in meine. »Die Stimme sprach weiter. Im Laufe der nächsten Nächte verriet der Mann einen Ort in der Wildnis, wo er diejenigen treffen würde, denen die Flucht
Weitere Kostenlose Bücher