Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
Fahrt zum Leuchtturm in die Hand. Die Seiten rollten sich an den Ecken. »Charles Tansley! Was für ein Albtraum. Was bildet er sich ein, zu behaupten, Frauen dürften nicht malen, Frauen dürften nicht schreiben? Und die Art, wie Mr Ramsay seine Frau einfach vergisst, als sie tot ist – und am Ende kriegt er sich wegen Lily gar nicht mehr ein!«
Caleb legte den Kopf schief. »Ich habe mir schon gedacht, dass eure Ausbildung ziemlich schräg war, aber in welchem Ausmaß, war mir nicht bewusst.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte ich.
Caleb trat einen Schritt näher, ich roch den Rauch auf seiner Haut. »Mr Ramsay ist in Trauer, er ist am Boden zerstört. Deshalb fährt er mit James zum Leuchtturm – er denkt noch immer an den Streit, den er deswegen Jahre zuvor mit seiner Frau hatte.«
Ich runzelte die Stirn und versuchte zu verstehen, was Caleb gesagt hatte.
»Das Buch zeigt, was passiert, als Mrs Ramsay nicht mehr da ist, wie wichtig eine Mutter ist, wie schnell alles ohne sie auseinanderfällt«, fuhr er fort. »Sie haben sie alle geliebt.«
Ich erinnerte mich an die Lektion in der Schule, als Lehrerin Agnes über das Verlangen von Männern nach jüngeren Frauen gesprochen hatte und über die Unfähigkeit der Männer, auf die emotionalen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen einzugehen. Damals war mir das völlig einleuchtend erschienen.
»Das ist bloß deine Meinung«, setzte ich an und schüttelte den Kopf.
Doch Caleb sah mich weiter an. Das Licht der Laterne schien nur auf eine Hälfte seines Gesichts, was seine Züge weicher erscheinen ließ. »Das ist die Handlung des Buchs, Eve.« Er tippte auf den harten Umschlag.
Ich legte das Buch wieder hin und setzte mich in den Sessel, zum ersten Mal war mir der moderige Geruch egal, der dem Camp anhaftete.
»Es ist bloß –«, erwiderte ich, plötzlich peinlich berührt. Ich dachte an die Nacht im Krankenzimmer, kurz bevor ich die Schule verlassen und Lehrerin Florence mir erklärt hatte, dass der König die Erde effizient wiederbevölkern wollte, ohne all die Komplikationen von Familie, Ehe und Liebe. Nach ihren Worten hatten es die Mädchen zunächst willig getan. Auf kranke Art ergab das Sinn. Wahrscheinlich hatte sich das Regime ausgerechnet, dass wir – wenn wir Angst vor ihnen hätten – Männer nicht begehren würden. Uns niemals Liebe wünschen würden oder eine eigene Familie. Und damit williger wären, zu tun, was sie von uns verlangten. »Das habe ich anders gelernt.«
Ich drehte mich weg und hoffte, Caleb könnte meine Augen nicht sehen, in denen sich mein Gefühlschaos widerspiegelte. In der Schule hatte ich so hart gearbeitet, jede Lektion akribisch mitgeschrieben, die Seitenränder vollgekritzelt, bis ich Krämpfe in den Fingern hatte. Und wozu? Um meinen Kopf mit Lügen vollzustopfen?
»Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich nichts von dem weiß, was ich eigentlich wissen sollte. Und alles, was ich weiß, ist total verkehrt.« Ich bohrte die Fingernägel in meine Handfläche, plötzlich war ich frustriert. Wut stieg in mir auf. Ich ging auf die Tür zu, doch Caleb nahm meine Hand und hielt mich zurück.
»Warte.« Er legte seine Finger um meine Hand, bloß für einen Moment, dann ließ er wieder los. »Wie meinst du das?«
»Zwölf Jahre in der Schule und ich … Ich kann nicht mal schwimmen«, brachte ich heraus und erinnerte mich an die Panik, die ich in jener Nacht am Fluss gespürt hatte. Ich konnte nicht jagen oder fischen, ich wusste noch nicht mal, wo ich mich befand. Ich war vollkommen nutzlos.
Er begleitete mich zur Türöffnung. »Hier, Eve«, sagte er und hob seine Ausgabe von Die Fahrt zum Leuchtturm vom Boden auf. »Nimm das Buch. Du könntest es ja noch mal lesen – nur für dich.«
Wir blieben einen Moment auf der Türschwelle aus Lehm stehen, sein Kopf berührte fast die Decke. Ich fuhr mit den Fingern über den zerfledderten Einband und dachte über das nach, was er gesagt hatte. Vielleicht wäre das Buch hier, in diesem Höhlencamp, mit Abstand zu den Lehrerinnen und den Lektionen, tatsächlich ein anderes. Vielleicht wäre ich anders. Ich lauschte unseren Atemzügen, wir holten im gleichen Rhythmus Luft.
»Das löst immer noch nicht mein Schwimmproblem«, erklärte ich schließlich und musste grinsen, als ich Calebs Blick begegnete.
»Das ist der einfache Teil.« Er stützte sich mit der Hand gegen die Wand, ein paar Zentimeter über meinem Kopf. Auf seinem Kinn wuchsen kurze stumpfe Stoppeln, die im Licht der
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