Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
gewünscht, ich hätte, was Arden hatte. Ich hatte mir gewünscht, meine Mutter würde mich in der Stadt erwarten, wie ein Geschenk, das darauf harrt, ausgepackt zu werden.
»Wie konntest du so etwas tun?«, fragte ich.
Arden drehte sich zum Fenster und starrte ihr Spiegelbild auf der Scheibe an. »Ich weiß nicht …«
»Alle waren so eifersüchtig auf dich, und du –«
»Ich weiß!«, rief Arden. »Aber ihr habt alle über eure Eltern und Familien geredet. Ich wusste nicht mal, was eine Familie ist. Ich hatte einen Großvater, aber der war zu seinem Schäferhund netter als zu mir. Es war eine Erlösung, als er gestorben ist.«
Ich dachte an die achtjährige Arden, die allen von Geburtstagspartys erzählt hatte, die ihr Vater für sie gab. Dass er ihr ein Baumhaus gebaut hatte, dass ihre Eltern sich zuerst in der neuen Stadt »einrichten« mussten, bevor sie zu ihnen ziehen konnte. Arden hatte damals so lebhaft, so lebendig gewirkt.
»Es tut mir leid«, brachte sie heraus. »Es tut mir so leid.«
Ein Teil von mir wollte aufstehen, weggehen, doch der Schmerz in ihren Augen schien echt zu sein, ihre Entschuldigung ehrlich. Es stimmte, ich hatte von Wiedersehen mit meiner Mutter geträumt, die niemals stattfinden würden. Aber andererseits hatte ich auch Erinnerungen, Andenken, die ich immer wieder hervorholen konnte: Wie sie mich hochgehoben hatte, damit ich Zuckerstangen an den Weihnachtsbaum hängen konnte. Wie wir mit Fingerfarben gemalt hatten. Im Gegensatz zu Ardens Geschichten waren meine wahr. »Mir tut es auch leid«, erwiderte ich und konnte ihr noch immer nicht in die Augen sehen.
Eine Weile saßen wir Schulter an Schulter dort und beobachteten, wie die Jungen ihren Spaß an der Plünderung hatten. »Was ich wahrscheinlich sagen wollte …« Arden brach schließlich das Schweigen. »… ist danke.« Sie starrte geradeaus und zog den dicken grünen Pullover fester um sich.
»Wofür?«, fragte ich und konnte die Gereiztheit in meiner Stimme nicht unterdrücken.
»Dass du mir das Leben gerettet hast.« Arden wandte sich zu mir. »Noch nie war jemand so … lieb zu mir.« Ihr Kinn zuckte leicht, dann rannen ihr Tränen über das Gesicht.
Ich legte ihr tröstend die Hand auf den Rücken. Es war ungewohnt, sie so aufgelöst zu sehen. Eigentlich war sie diejenige, die sich weigerte zu heulen. Diejenige, die Kaninchen tötete. Die sich niemals während ihrer Krankheit beklagte.
»Schon in Ordnung.« Ich strich ihr über den Hinterkopf und entwirrte die Knoten in ihrem kurzen Haar. »Du brauchst mir nicht zu danken. Du hättest dasselbe für mich getan.«
Arden hob den Kopf und nickte langsam, als wäre sie sich da nicht ganz sicher. »Manchmal wusste ich nicht mal mehr, wo ich überhaupt war. Ich erinnere mich bloß noch daran, dass du mir die Haare gekämmt und das Gesicht gewaschen hast und –« Ihr versagte die Stimme.
Ich nahm sie in den Arm. »Es war nichts. Wirklich.« Ich spürte ihren Atem an meinem Ohr, es war ein feuchtes Röcheln. Ihr Oberkörper bebte und erst da merkte ich, wie herzzerreißend sie schluchzte. Ich spürte ihre Tränen durch den Wollpullover auf meinen Schultern. »Es war nichts«, wiederholte ich.
»Ich weiß.« Arden schniefte kräftig und wich meinem Blick aus. Sie löste sich aus meiner Umarmung, wischte sich mit den Händen über die Wangen, bis die Haut um ihre haselnussbraunen, blutunterlaufenen Augen rote Flecken zeigte. »Ich weiß.«
Solange ich in der Schule gelebt hatte, waren immer Pip und Ruby bei mir gewesen, hatten mich zum Essen gerufen oder meinen Rock glatt gestrichen, wenn er zerknittert war. Doch in der Wildnis sprachen tagelang nur die Vögel mit mir. Der Fluss war die einzige Hand, die mich berührte, der Wind der einzige Atem, der mir Staub aus den Augen blies. Ich lernte die seltsame Kunst des Alleinseins, die wettergegerbte Sehnsucht, die immer wieder aufs Neue anschwillt und verfliegt, wenn man ganz allein einem Weg folgt.
Doch Arden beherrschte diese Kunst schon lange. In der Schule, außerhalb der Schule. Zu lange.
Ich legte ihr die Hand auf die Schulter und wusste, dass ich das Falsche gesagt hatte – es war nicht nichts. Für Arden bedeutete es alles.
ZWANZIG
Wir blieben so sitzen, Ardens Stirn auf meiner Schulter, bis Caleb vom Klavier zu uns herüberrief. »Kommt, ihr zwei. Hört auf, euch so … mädchenhaft zu benehmen.« Er grinste mich schelmisch an, seine Augen strahlten.
Berkus, ein älterer Junge mit struppigen blonden
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