Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
den Philosophen unter den Kriminalbeamten bezeichnet. Tatsächlich sieht er mit seiner Cordjacke, den etwas zu langen Haaren und den Kaufhausjeans eher wie ein Philosophieprofessor aus als wie ein Topkriminalist. Man soll sich allerdings nicht täuschen lassen. Er ist gut. Das weiß ich. Und er kann ganz schön wütend werden, wenn man sein Spiel sabotiert.
„Haben Sie sich den Fall Evelyn Maier angesehen?“, frage ich.
Er wirkt richtiggehend erleichtert. „Was für einen Fall?“, fragt er zurück. „Das ist kein ‚Fall‘.“
„Das heißt, Sie haben ihn sich angesehen und sind zu dem Schluss gekommen, dass ihr Tod ein Unfall war.“
Er sieht mich beinahe belustigt an. „Korrekt.“
Ich seufze. „Könnten Sie ein bisschen mehr darüber sagen? Wo es doch ohnehin kein ‚Fall‘ ist?“
Zuckerbrot spielt mit dem Kugelschreiber, der auf dem kleinen Tisch zwischen uns liegt. „Da gibt es nicht viel zu sagen. Die Frau hat hundertzehn Kilo gehabt, eine Krankengeschichte wie eine Achtzigjährige, unter anderem Zucker, der in letzter Zeit nicht mehr behandelt worden ist. So etwas kann Schwindelgefühl auslösen. Sie ist gegen den Eisenofen gefallen, hatte eine offene Schädelfraktur, wäre wohl ohnehin daran gestorben, ist aber verblutet.“
„Gab es eine Autopsie?“
„Gab es nicht. Das können unsere Gerichtsmediziner auch so feststellen. – Was interessiert Sie an der Frau? Ist doch nicht der klassische Fall für eine ‚Magazin‘-Geschichte, oder?“
„Sie ist die Mutter einer Freundin von Vesna Krajners Tochter. Vesna …“
„Ich weiß, wer Vesna Krajner ist. Wer wüsste das nicht, der sich neben ihr um die Aufklärung von Verbrechen bemüht?“
„Sie hat ein Reinigungsunternehmen“, widerspreche ich.
Zuckerbrot lächelt. „Die Mafia hatte Waschsalons.“
Ich will schon auffahren, aber er fasst mich beruhigend am Arm. „Nichts gegen Ihre Freundin. Aber das ist kein Fall. Es gibt einfach kein Motiv. Wir haben mit der Tochter und dem Sohn und der Cousine geredet. Viel mehr Menschen scheint Evelyn Maier nicht gehabt zu haben. Traurig, so etwas. Aber kein Fall.“
„Ihr Mobiltelefon ist verschwunden. Céline, die Tochter, sagt, dass es so etwas wie der einzige Vertraute ihrer Mutter war.“
„Das hat sie uns auch erzählt. Wir haben uns sogar die Speicherkarten angesehen, sie scheint andauernd mit dem Telefon filmend herumgelaufen zu sein. Hätte ja sein können, dass sie etwas aufgenommen hat, was sie nicht hätte sehen sollen. Nichts. Trauriger Alltag einer einsamen Frau.“
„Die keinen interessiert.“
Zuckerbrot schüttelt den Kopf. „Die meisten, die aus ungeklärter Ursache ums Leben kommen, haben in der Realität viel mehr mit Evelyn Maier zu tun als mit irgendwelchen TV-Opfern aus bester Familie. Wir schauen nicht weg, nur weil vor dem Tod ein ‚patschertes Leben‘ war, wie man in Wien sagt.“
„Und ihr verschwundenes Telefon?“
„Sie war offenbar etwas wirr. Kann mit der Einsamkeit, aber auch mit der Diabetes zusammengehangen haben. Seit sie von Wien weggezogen war, hat sie keine Medikamente mehr geholt. Sie wird das Telefon irgendwo verloren haben.“
„Wo? So groß ist das Haus nicht.“
„Sie ist einmal die Woche nach Wien gefahren. Wien ist groß.“
„Kann ich die Speicherkarten haben?“
Zuckerbrot schüttelt langsam den Kopf. „Das sollten Sie wissen. Sie sind keine nahe Angehörige. Ich kann die Karten für die Tochter oder den Sohn freigeben. Wir schicken sie zurück an das zuständige Kommissariat in Niederösterreich.“
„Die Karten sind hier in Wien?“
„Wir haben sie kommen lassen. Und nachdem Sie mich angerufen haben, hab ich kurz hineingesehen. Nichts Bemerkenswertes, wirklich.“
Ich weiß ja selbst nicht, ob Céline recht hat. Ich überlege. Wen kenne ich, der mir die Speicherkarten herausrücken könnte …? Wenn sie für die Polizei ohnehin ohne Bedeutung sind … Wie schade, dass Verhofen nicht da ist. Zuckerbrot muss Gedanken lesen können. „Sinnlos, es hinten herum zu probieren. Meine Sekretärin ist, abgesehen von ihrer Grünpflanzenmanie, eine Perle. Und genauso verschlossen wie die Auster rundherum. Und Verhofen ist auf Urlaub in Afrika.“
Ich nicke möglichst harmlos. „In Zimbabwe. Wo er für die UNO Polizeioffiziere ausgebildet hat.“ Ich weiß, warum er damals zurück nach Österreich gekommen ist. Wegen einer Frau, einer Uni-Dozentin, die sich in Harare für einen heimischen Politiker entschieden hatte. Ob er es
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