Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
stehen und überlege, wo wir das Auto geparkt haben. Mein Orientierungssinn ist nicht eben der beste. Vesna packt mich am Arm. Da vorne ist Roger, er kommt uns direkt entgegen. Man kann nicht sagen, dass er sich freut, uns zu sehen.
„Wir waren bei Tante“, erklärt Vesna. „Die Sie so mögen.“ Sie grinst.
„Warum?“ Er sieht uns unfreundlich an. „Übermorgen ist das Begräbnis. Man soll Tote ruhen lassen.“
„Sie waren am Tag, an dem Ihre Mutter gestorben ist, in Lissenberg“, fordere ich ihn heraus.
„Sagt die Tante das?“, kommt es scharf zurück. Er trägt heute ein schwarzes Sweatshirt, die Ärmel über den Ellbogen hinaufgeschoben. Er scheint seine Tätowierungen schön zu finden. Kringel und Drachen und seltsame Zeichen.
„Das sagt die Nachbarin in Lissenberg“, erwidere ich.
„Die redet immer Unsinn. Das ist eine alte Frau.“
„Und wo waren Sie gestern Nacht?“, will Vesna wissen.
Er starrt uns an. „Warum gestern Nacht? Ich war da. Im ‚End‘. Und dann haben wir noch eine Spritztour gemacht.“
„Nach Lissenberg?“, fragt Vesna.
„Was sollte ich dort wollen? Lassen Sie mich in Ruh, ich hab genug.“ Roger drängt sich an uns vorbei und stapft Richtung Café „End“.
„Aus dem kriegen wir nichts raus“, stelle ich fest.
„Aber er lügt. Und eigenartig, dass er nicht will, dass wir herausfinden, wie das mit Tod von Mutter war“, murmelt Vesna.
„Er hat gesagt, die Nachbarin sei doch eine alte Frau. Er scheint Lissenberg besser zu kennen, als er vorgibt“, überlege ich.
„Er kann sie natürlich einfach gesehen haben, als er Satellitenschüssel auf das Dach gepfuscht hat“, schwächt Vesna ab. „So ungleiche Geschwister. Fran und Jana sind auch verschieden und sind sogar Zwillinge, aber wenn man Céline und Roger vergleicht …“
Ich tue mich noch etwas schwer mit meinem Ersatztelefon, außerdem habe ich die meisten Nummern nicht auf der SIM-Karte, sondern auf dem Telefon gespeichert. Célines Nummer finde ich jedenfalls nicht mehr.
„Da ist Auto“, sagt Vesna. Wir steigen in meinen Allrad-Honda und ich bemerke, wie viele SUVs hier parken. Als wolle man beweisen, dass gleich hinter der überdimensionalen Stadtrandsiedlung Freiheit und Abenteuer warten. Es ist Vesna, die mit Céline telefoniert. Sie habe jetzt gleich den zweiten Teil ihres Einzelgesangsunterrichts, aber wir könnten uns danach vor der Musikuniversität treffen, erzählt Vesna, während sie ihr Telefon wieder in der Jackentasche verstaut. Und dass sie zugesagt habe. Das habe ich mitbekommen. Eigentlich bin ich todmüde. Was mache ich da? Ich sollte mich erholen und dann an meine Story fürs „Magazin“ denken. Die Gewinner der Krise – total harmlos.
Ja, übermorgen sei das Begräbnis, bestätigt Céline. Wir lehnen an meinem Auto. Jetzt am Abend wird es empfindlich kalt. Oder habe ich Fieber? Quatsch, ich bin lediglich ein wenig angeschlagen, aber lange noch nicht ausgezählt.
„Keine Chance mehr auf eine Obduktion“, sagt Céline und schüttelt den Kopf. „Vielleicht hat mein Halbbruder ausnahmsweise recht und man sollte alles auf sich beruhen lassen.“
Ich zeige ihr meine Beule und erzähle die Geschichte von gestern Nacht. Céline sieht mich entsetzt an.
„Wir haben Roger gefragt, wo er gestern Nacht war“, ergänzt Vesna. „Zuerst im Café und dann auf ‚Spritztour‘. – Du kannst dir vorstellen, er war es?“
Céline schüttelt langsam den Kopf. „Warum? Ich sehe keinen Grund.“
„Die Nachbarin hat Roger gesehen. Am Tag, an dem deine Mutter ums Leben gekommen ist. Er sagt, die Frau redet Unsinn.“
„Da hat er ausnahmsweise recht. Mama … sie hatte nichts. Und sie hat ihm nie etwas verboten, schon früher nicht. Sie hat immer gesagt, er ist der Mann in der Familie.“
„Er sagt, der Liebling warst immer du“, murmle ich.
„Da kann schon etwas dran sein. Ich hab mich auch nicht geprügelt. Wegen mir musste sie weder in die Schule noch auf die Polizei.“
„Die Nachbarin redet auch davon, dass deine Mutter ständig Männerbesuch hatte. Und dass sie getrunken hat.“
Céline lacht traurig auf. „So ein Unsinn. Mama hat keinen Tropfen Alkohol getrunken, nie. Sie war da ganz eigen, hat immer gesagt, vom Alkohol komme alles Unglück. Es hat schlimme Streitereien zwischen ihr und Roger gegeben, nachdem er zum ersten Mal angetrunken heimgekommen war.“
„Weißt du, warum sie da so strikt war?“, frage ich.
„Keine Ahnung. Ich hab mir damals
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