Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
diesem Monat in Frankfurt. Vielleicht ist es Zeit, dass wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern.
[ 5. ]
Ich sitze an meinem massiven Arbeitstisch und starre auf den Bildschirm des Laptops. Ich versuche den ersten Teil der Reportage über die Secondhandladenbesitzerin zu schreiben, aber ich komme einfach nicht weiter. Gismo liegt neben dem Laptop und döst. Ich sollte schlafen gehen. Doch das Kopfweh ist noch schlimmer geworden. Ich stehe auf und hole meine Allheilmittel: Aspirin und Whiskey. Als ich mir Jameson einschenke, scheint das Geräusch im ganzen riesigen Wohnraum widerzuhallen. Wenn Oskar nicht da ist, wirkt er leer. Ich nehme einen Schluck, setze mich wieder vor den Computer. In einem kleinen Plastiksack liegen die Speicherkarten von Evelyns Mobiltelefon. Soll ich sie Céline geben? Nur wenn sie danach fragt. Sie muss diesen Teil des Lebens ihrer Mutter nicht sehen. Sie soll die alten Fotos ansehen, Bilder aus der Zeit, in der Evelyn glücklich war.
Vier Speicherkarten haben wir noch nicht durchgesehen. Mit der Reportage wird es heute ohnehin nichts mehr. Ich schicke das wenige, das ich habe, per E-Mail an meine Redaktionsadresse. Dann lege ich die Karte vom Mai ein. Frans Programm funktioniert auch auf meinem Laptop. Ich wähle den Schnelldurchlauf. In der Mikrowelle wird Reis gewärmt. Dann schüttet eine dicke rosa Hand jede Menge Ketchup darüber. Der Fernseher läuft. Positionswechsel im Plastiksessel, Vierteldrehung weg vom Tisch hin zum Fernsehbild. Ein sozial engagierter Experimentalfilmer könnte aus diesem Material eine Menge machen, überlege ich. Nächstes File. Diesmal im schmalen Garten zwischen der Hinterfront des Hauses und dem Schuppen. Evelyn und ihr Liebling scheinen einfach auf und ab zu wandern. Oder suchen sie etwas? Was?
Letztes File auf der Mai-Speicherkarte. Evelyn geht mit ihrem Liebling wieder einmal durch die Küche, bleibt diesmal beim Fenster zur Straße stehen. Das Videoauge sieht durch das Fenster auf den verwachsenen Tannenbaum, auf ein Stück Straße dahinter. Evelyn sagt etwas, es ist im Schnelldurchlauf nicht zu verstehen. Am Straßenrand scheint ein Auto geparkt zu sein. Das Videoauge wendet um 180 Grad, sieht in die Küche, sucht, findet die Fernbedienung, Drehung um 90 Grad hin zum Fernseher. Nachrichten laufen. Verschwommener Sprecher vor einer verschwommenen Weltkarte. Meine Kopfweh-Therapie scheint zu wirken. Ich werde schlafen gehen. Stopp, Mira, noch einmal zurück zum Tannenbaum. Da war was. Großes Auto vor dem Haus. Die Nachbarin hat von „Männerbesuch“ mit ganz großem Auto gesprochen. Was, wenn zumindest ein Teil von dem, was sie erzählt hat, doch stimmt? Ich starte das File noch einmal, diesmal in Originalgeschwindigkeit. Langsam schlurfen Evelyn und ihr Liebling zum Fenster. Da, halb vom windschiefen Tannenbaum verdeckt, steht das Auto. Mercedes könnte passen, sieht aus, als wäre es einer von den ganz luxuriösen. Was sollte jemand in einem solchen Auto mit Evelyn zu tun haben? Vielleicht hat er sich einfach verirrt. Evelyns Stimme, verwaschen wie immer: „Den brauchen wir nicht, den nicht.“ Dann wenden sich die beiden vom Fenster ab und wieder dem Fernseher zu. Ich bin mit einem Schlag deutlich munterer. Ich sehe mir die Sequenz mit dem Auto in Zeitlupe an, stoppe dort, wo es am besten zu erkennen ist. Drei Bilder drucke ich aus. Die Automarke kann ich nicht erkennen, auch nicht, wer in dem Auto sitzt. Die Scheiben sind verspiegelt. Der Wagen scheint schwarz zu sein, aber selbst das ist durch das Grünzeug davor und das schräge Licht nicht genau zu sehen. Trotzdem: Autofans könnten erkennen, was das für ein Gefährt ist. Dass es teuer ist, sehe sogar ich. Ich lege die nächste Speicherkarte ein. Schnelldurchlauf. Evelyn zieht eine Jacke an, nimmt den Mantel vom Haken, hängt ihn wieder auf, sie sucht ihre Handtasche, findet sie in der Küchenkredenz, öffnet die Tür, steht im Freien. Das Ganze dauert in Echtzeit mehr als zehn Minuten. Evelyn steht im verwilderten Gras und sagt etwas. Ich spule zurück. Ich muss den Teil in normaler Geschwindigkeit abspielen. Vielleicht sagt sie, wohin sie möchte. Vielleicht nennt sie einen Namen. Den Namen der Person mit dem dicken Auto. Unwahrscheinlich. „Den brauchen wir nicht“, hat sie gesagt, als sie zehn Tage davor aus dem Fenster gesehen hat. Jetzt sagt sie: „Doris ist eine fette Kuh.“ Ich seufze. Sie scheint auf dem Weg zu ihrer Cousine zu sein. Nächste Speicherkarte. Kein
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